25.09.2009

Vergangenheitsbewältigung als Familientreffen?

ES KOMMT DER TAG

von Bernd Zywietz



D 2009
R + B: Susanne Schneider, K: Jens Harrant, SCH: Jens Klüber, M: Andreas Schäfer, Biber Gullatz, P: Sabine Holtgreve, Stefan Schubert, Ralph Schwingel,
D: Katharina Schüttler (Alice), Iris Berben (Judith/Julie), Jacques Frantz (Jean-Marc), Sebastian Urzendowsky (Lucas), Sophie-Charlotte Kaissling-Dopff (Francine) u.a.

Länge: 108 Minuten
Kinostart: 01.10.2009
Verleih: Zorro Film
FSK: 12

Natürlich wurde wieder Bernd Eichingers und Uli Edels DER BAADER MEINHOF KOMPLEX erwähnt, wenn auch nicht beim Namen genannt – und erneut gab es Lachen und Gekicher, diesmal auf der Publikumsprämierenfeier von Susanne Schneiders ES KOMMT DER TAG im Berliner Kino in der KulturBrauerei. Die E-Presse hatte schon am roten Teppich gedrängelt wegen der beiden Hauptdarstellerinnen: Iris Berben und Katharina Schüttler. Mit bzw. dank ihnen ließ sich gerne und gut über den „gewissen“ großen und „besagten“ erklärenden Film spötteln, wobei ES KOMMT DER TAG scheinbar unterschiedlicher nicht sein kann.

Von Anfang an war das Projekt, wie Producerin Sabine Holtgreve von Wüste Film Ost erklärte, als Kammerspiel angelegt, ebenso die Aufarbeitung des Terrorismus als Thema: Die junge Alice (Schüttler) fährt nach Frankreich, wo Julie Muller (Berben) als Mutter zweier Kinder mit ihrem Mann ein Weingut betreibt. Durch ihr Umweltengagement ist Julies Bild in die Zeitung geraten. Auf diese Weise hat Alice sie gefunden, die nun voller Zorn Julie nachspioniert, den eigenen Wagen gegen einen Baum fährt, um sich auf dem Hof ein Gästezimmer zu nehmen – kurz, etwas im Schilde führt.


Wüsste man nichts von dem Film, es wäre der Beginn eines Psychothrillers. Doch natürlich eilt der Inhalt notgedrungen voraus, was insofern schade ist, als ein dahingehend unbefangener Zugang zu ES KOMMT DER TAG verstellt wird. Durch Presse und PR wissen wir, es geht um den linken bundesdeutschen Terrorismus, genauer gesagt, um eine Terroristin und ihre Vergangenheit, die sie einholt. Julie heißt eigentlich Judith, ist in den 1970ern aus politischem Bewusstsein in den Untergrund gegangen, hat bei einem Banküberfall einen Mann erschossen – vor allem aber ihre kleine Tochter verlassen. Diese Tochter, Alice, konfrontiert nun ihre Mutter, mit deren Vergangen und ihrer eigenen unfertigen Identität, dem Schmerz des Aufgegeben-Werdens. Es ist ein gerechter Zorn, und zum Umstand, dass die Verwundung wegen eines historisch überholten „politischen Widerstandes“ geschah, der für die Jüngeren aus der Rück-Sicht nicht oder nur bedingt verständlich ist, kommt hinzu, dass Judith als Julie mit ihrem französischen Mann Jean-Marc (formidabel: Jacques Frantz) auf ihrem elsässischen Hof doch wieder ein damals so verpöntes Familienleben aufgebaut hat, in dem Alice nichts zu suchen hat. All das verleiht der jungen Frau sowohl eine besondere Opferrolle wie auch eine – dramaturgisch vorzügliche – Pein als Motivation. Die Mutter soll sich offen zu ihrer Tat bekennen und sich der Polizei stellen, das fordert Alice unerbittlich.


Schneiders Thomas-Strittmatter-Preis prämiertes Drehbuch ist wie ihre Regie sehr exakt und spielt die Facetten des Beziehungskomplexes der beiden Frauen erstaunlich vielfältig durch, ohne dass dabei die Figuren in Einzelteile zerfallen. Nicht „die da ist meine Mutter“, stößt Alice gegenüber Judiths Sohn Luca (ebenfalls ungeheuer präsent: Sebastian Urzendowsky) hervor, sondern „die hat mich geboren“ – etwas gänzlich anderes; eine in dem erregten Moment fast schon zu gewitzte kodierte Anklage Judiths, die ja gerade nicht „Mutter“ für Alice war bzw. sein wollte.

Notgedrungen bietet dieses geniale Monstrum an Konfliktsituation zu viel Stoff, um alle Aspekte gänzlich durchzuspielen, doch werden auch jene in der „zweiten Reihe“ wie Alices Beziehungen zu ihren Halbgeschwistern und Jean-Marcs Verhältnis zu seiner ihm plötzlich fremden Frau in wenigen kraftvollen Momenten so auf den Punkt gebracht, dass man aufs Durchdeklinieren gar nicht bestehen mag. ES KOMMT DER TAG ist in allererster Linie ein Schauspielerinnenfilm. Die theatererfahrene Schneider gönnte ihren zwei Stars den Luxus, eine Woche lang gemeinsam die Charaktere zu entwickeln. Das hat sich gelohnt. Was Berben und Schüttler hier an Intensität und Nuanciertheit aufbieten, ist atemberaubend. Alles dient den beiden und spiegelt ohne große Anstrengung ihren leidvollen Zweierzwist – wie die Musik, die grimmig verletzten „Alice“-E-Gitarrenklängen den „Judith“-Klaviertönen erst gegenüber-, dann zur Seite stellt bzw. sie sich ineinander verschlingen lässt. Die modische, manchmal doch arg bewegte Handkamera weidet sich an diesen Schauspielerinnen, an Schüttlers verzweifelt grimmiger Lust, wenn sie auf einem Rastplatz mit ihrem Freund nochmal Sex auf dem Rücksitz hat, ehe sie ihm davonfährt. Oder an Berbens mühevolle Beherrschtheit zu Tisch, wenn sie nicht weiß, was nun mit, angesichts oder wegen diesem Menschending, für das es keine rechte Verwandtschaftsdefinition (mehr) gibt, tun soll.

Ein kleiner Wehmutstropfen ist allerdings das bisweilen überdeutliche Sprechen Schüttlers, die, vom Theater offenbar „verdorben“ die Wortendungen wie auf der Bühne betont und so ihrer Figur das eine ums andere Mal die emotionalen Spontanität nimmt, vor allem aber das Publikum um das leichte, so hinreißende, natürliche Vernuscheln ihrer früheren Filme bringt. Doch selbst das lässt sich als durch ihre Figur motiviert begreifen: Eine junge Frau, die ohne Herkunft nicht weiß, wer genau sie ist; ein Zorn, der wie eine Maske getragen die wunde Seele ebenso schützt wie nach außen hin repräsentiert.

Wie steht es nun aber, von der „privaten“ Brillanz von ES KOMMT DER TAG abgesehen, mit der „Politik“ – genauer: dem Thema Schuld und Terrorismus? Komischerweise ähnelt ES KOMMT DER TAG dabei doch ein winziges Bisschen dem verpönten BAADER MEINHOF KOMPLEX, insofern die Begleitinformationen, die den Film in den Terrorismuskontext setzen, dem Film nicht guttun. Und auch wie beim großen Aufreger des letzten Jahres schwächelt ES KOMMT DER TAG – wenn auch auf ganz anderem Niveau, mit völlig anderen Ansprüchen, Gründen und Wirkungen – hinsichtlich der Diskussion um die Beweggründe, dem „Wie es dazu kommen konnte“.

Auf Gudrun Ensslins Briefe (in denen sie, die ihren Sohn verlassen hat, sich doch stets interessiert gezeigt hat) wird immer wieder verwiesen, von Schneider, Schüttler, Holtgreve.

Dass es pervers sei, Kinder der dritten Welt retten zu wollen und dafür die eigenen zu missachten. Ob man einem Menschen nach so langer Zeit nicht vergeben solle, könne, müsse, weil der jemanden aus „guten“ Gründen auf dem Gewissen hat.
Große Fragen, starker Tobak.

Bei der Stoffentwicklung, so Producerin Holtgreve, habe man die Mutter anfangs mit mehr Verständnis behandelt, erst danach sie quasi etwas härter gezeichnet. Und doch ist davon wenig zu spüren, auch zum etwas offenen Schluss nicht. Sicher, was Judith getan hat, daran lässt man sie leiden und der Film entschuldigt sie nicht: dass sie Alice weggeben und einen Mann bei einem Banküberfall erschossen hat. Doch aus welchen (Hinter-)Gründen? „Du verstehst das nicht!“, erklärt Judith ihrer Tochter, spricht von ganz anderen, revolutionären Zeiten, und in diesem Moment schwächelt Berbens Spiel, wirken die allgemeinen Rechtfertigungen aufgesagt, nicht jedoch aus der Figur heraus. Genauer und besser dann zu Tisch: Mutter Judith wirft ihrem Sohn, der sich auf die Seite der Halbschwester stellt, vor, er habe in seiner Bequemlichkeit keine Ahnung von und Interesse an Engagement. Hier wird der Generationenkonflikt spürbar, den Schneider als Ausgangspunkt für ihre Filmidee nennt.

In einer Szene konfrontiert Alice ihre Mutter mit dem Tod des Mannes, den diese auf dem Gewissen hat. Endlich erinnert sie (und der Film) an dessen Hinterbliebene – um dann doch sofort wieder auf Alices eigenes Schicksal zu kommen. Selbst Alice schert sich nicht wirklich darum, um was es damals gegangen ist. Und auch wenn schließlich Judith davon erzählt, wie sie ihr unschuldiges Opfer erschossen hat, ein Missgeschick sozusagen, bleibt der Film ein kleinwenig achselzuckend. Wie heikel und unauflösbar wäre es gewesen, wenn Judith einen kaltblütigen, politischen Mord begangen hätte, wegen den sie rechtfertigen muss – und vielleicht gar nicht wirklich bereut? Etwas, das weit weniger entschuldbar gewesen wäre? Der so doch recht versöhnliche Schluss wäre undenkbar und die darauf folgenden Gefechte mit den Förderanstalten anzuschauen ein Genuss gewesen.


Nun ist es nicht fair, einem Filmprojekt vorzuhalten, es habe keinen Selbstmord vor der Geburt begehen wollen, zumal es das Terrorismusthema letztlich doch nur ein Randaspekt ist. Allerdings: Weniger noch als in Christian Petzolds DIE INNERE SICHERHEIT (D 2000) spielt die linke Gewalt und ihre Vergangenheit in ES KOMMT DER TAG eine Rolle – und zugleich doch mehr; der Film wird deutlicher. Ob Judith in der RAF oder „Bewegung 2. Juli“ ist zwar egal, doch es gibt Fahndungsplakate, auf denen Judith als verdächtige Terroristin gesucht wird. Alice fotokopiert sie, hängt sie im Weinberg auf. Man fragt sich unwillkürlich, auch eingedenk Petzolds Film, ob es auch gewöhnliche Fahndungsplakate hätten sein können?

Können sie natürlich nicht. Der Film braucht für sein Dilemma einen ehemals guten (oder gutmeinenden), aus überzeugtem, verzerrt altruistischem Grund, aus dem schlimmes entwachsen ist – ein gesellschaftliches Spiegelbild von dem, was Alice wiederfahren ist.

Petzold hat keine Fahndungsplakate. Nur kleine Andeutungen und Anspielungen verweisen in DIE INNERE SICHERHEIT auf die linksterroristische Vergangenheit der Eltern, und geht zugleich viel weiter, weil er das Leben in einer permanenten, gleichwohl stummen Flucht präsentieren kann. ES KOMMT DER TAG zeigt eine statische Situation, und alles Diskutieren und alle Gründe können nicht anders, als Dialoge und, nun ja, Behauptungen bleiben.

So gesehen ist die terroristische Geschichte strukturell ebenso unabdingbar für die Erzählung, wie sie gleichzeitig handlungsthematisch keine wirkliche Rolle spielt – schon gar nicht als gesamtgesellschaftliches, politisches und historisches Phänomen. Mit ihr setzt sich ES KOMMT DER TAG nicht wirklich auseinander, auch wenn die entsprechende Ideologie und ihr Kampf auf das Argument des Weltverbesserns und das der „anderen Zeit“ reduziert, als Fragmente eingestreut sind und Judith ambivalenter werden lassen.

Man könnte ES KOMMT DER TAG denn auch den entpolitisierten Rückzug ins Private vorwerfen (wie bei Schlöndorffs DIE STILLE NACH DEM SCHUSS geschehen) oder dass er doch nichts über die Motive und ihre Kontexte aussagt (was man dem BAADER MEINHOF KOMPLEX vorhält). Beides wäre wohl ungerecht, tatsächlich will ES KOMMT DER TAG beides selbst gar nicht. Im schlimmsten Fall würde Schneiders Film genau aus eben jenen „Mängeln“ seine Kraft beziehen.


Wollte man eine tiefere ideologische Diskussion im Film in einem solchen Rahmen, man hätte Alice nicht Judiths Tochter, sondern die des erschossenen Mannes sein lassen. Es wäre ein anderer Film geworden – und es ist keine neue Idee. Zwei Filme habe sie, jedenfalls in etwas, in letzter Zeit aufgenommen: Connie Walters SCHATTENWELT (D 2008) über eine RAF-Opfertochter (Franziska Petri), die es auf den Terroristen (Ulrich Noethen), Mörder ihres Vaters, abgesehen hat, sowie Oliver Hirschbiegels FIVE MINUTES OF HEAVEN (GB 2009) zum Nordirlandkonflikt, in dem sich ein katholischer Mann (James Nesbitt) endlich dem Protestanten (Liam Neeson) stellt, der seinen Bruder tötete – eine Tat, die beider Leben ruiniert hat.

Von Osmose sprach Susanne Schneider bei der Publikumspremiere hinsichtlich dieser neuen Form der Auseinandersetzung, davon, dass es wohl eine Generation braucht, um die Geschichte – jedenfalls hinsichtlich Schuld und Trauer – fiktiv zu verarbeiten. Da mag etwas dran sein, zumindest wenn es um eine bestimmte Art der Verarbeitung geht: eine selbstreflexive, die Trauer und Trauma angesichts politischer Gewalt selbst zum Gegenstand erhebt. Und natürlich braucht es die Zeit, müssen die mittelbaren Opfer heranwachsen, wie auch die Täter auf ihrer Schuld erstmal sitzenbleiben, muss das Kontext-Sujet abkühlen und Politik sich in Geschichte umzuwandeln beginnen. Womöglich gar in Vulgärgeschichte.

So gesehen mag es kein Zufall sein, dass BAADER-MEINHOFF-Reenactment mit seinem fast manischen Authentizitätsgestus und Wieder-Holen wie auch Filme wie ES KOMMT DER TAG, die vom qualvollen Steckenbleiben in der Zeit oder dem untoten Zustand des Vergangen erzählen, zur etwa gleichen Zeit erscheinen. Vielleicht sind sie letztlich doch zwei Seiten einer Münze sind, mit der ihre (Äqui-) Distanz zum Deutschen Herbst und seiner unverdauten Albtraumzeit bezahlt werden muss – eine, die nur zusammen mit Entpolitisierung und / oder der Umformung ins Tragödische zu haben ist.