04.12.2015

Zu "Abu Talha al-Almanis" / Denis Cusperts neuem Video und Furat Media



Nahe Rakka soll Denis Cuspert alias Abu Talha al-Almani am 16. Oktober 2015 getötet worden sein. So bestätigte es auch Pentagon-Sprecherin Elissa Smith: Zusammen mit dem Hauptziel, dem libyschen IS-Kommandeur Abu Osman al-Libi, sei er durch einen US-Raketenangriff auf einen Pick-Up-Truck ums Leben gekommen. Schnell allerdings folgten Gerüchte, der Ex-Gangsta-Rapper und Propaganda-Aushängeschild des IS fürs deutsche Publikum, habe einmal mehr (schwer verletzt) überlebt – einnmal mehr also: schon zuvor war Cuspert für tot erklärt worden. 

Nun, Anfang Dezember, ist ein Video aufgetaucht, das den Verdacht bestätigen könnte, zwischen unsicherer militärischer-geheimdienstlicher ‚Intelligence‘ und Mythenbildung sei Abu Talha dem Tod ein weiteres Mal von der Schippe gesprungen.

Entsprechend sieht die FAZ Zweifel geweckt und verweist dabei auf DIE WELT, die freilich ebenso wenig für den Entstehungszeitpunkt des 13-minütigen Films bürgen kann und mag. In ihrem Online-Beitrag heißt es:

Unklar ist, wann das Video entstand. Zuletzt hatte der IS im April ein Video Cusperts veröffentlicht. Einerseits trägt der neue Clip nach ‚Welt‘-Informationen das Datum ‚Safar 1437 Hijri‘ - das ist der islamische Monat, der vom 13. November bis zum 12. Dezember 2015 reicht. Anderseits werden beispielsweise nicht die Anschläge von Paris thematisiert. Auch spricht Cuspert über einen "Abu Yasir al-Almani", der sich im irakischen Kirkuk in die Luft gesprengt haben soll. Es gab allerdings schon im August 2014 einen Anschlag von einem ebensolchen ‚Abu Yasir al-Almani‘.“

Ob allerdings das Video Cusperts Ableben widerlegt oder nur widerlegen soll ist gar nicht so sonderlich interessant. Der Umstand, dass Paris nicht thematisiert wird, ist eher zu vernachlässigen. Und die Datumsangabe „Safar 1437 Hijri“ ist weniger Geheimwissen oder journalistische Recherchekunst („nach ‚Welt‘-Informationen“), sondern basiert schlicht auf einer Einblendung in den letzten Sekunden des Films mit dem (deutschen!) Titel „Die Ritter der Shahada 2 – Abu Yasir al-Almani“

Es bleibt aber offen, ob der Zeitstempel sich nun auf Cusperts Lobpreisung des untertitelgebenden Selbtmordattentäters bezieht, auf dessen ‚Märytrer‘-Operation oder schlicht die Fertigstellung der Kompilation der drei Teile (Cusperts Rede, der auf einer Parkbank in Flecktarnjacke und mit Pakol auf dem Kopf und mit einem Schimmel im Hintergrund den vermeintlich Solinger Kriegsgefährten ehrt / die letzten Worte und Verabschiedung des Suizid-Kommandos / die dunklen Aufnahmen der Explosion in der Ferne).

Der Vorgänger-Film, „Die Ritter der Shahada 1 – Abu Abdullah al-Almani“ (schon bei der Veröffentlichung Mitte Juni mit Durchnummerierungs-„1“, was den Vorabplan einer Videoreihe über deutsche Selbstmordattentäter nahelegt), kam jedenfalls noch ohne Cuspert aus. 

Cuspert im Anfang Dezember 2015 veröffentlichten  Furat-Media-Video "Die Ritter der Shahada 2 - Abu Yasir al-Almani"

Doch der WELT-Artikel ist nicht korrekt – und damit wird es interessanter – mit seiner Aussage, Cuspert sei zuletzt im April in einem Video des IS aufgetreten. 

Gemeint mit diesem April-Auftritt ist offenkundig der Clip „Fisabilillah“, den ich in meinem Beitragin DIE KRIMINALPOLIZEI kurz beschrieben habe. Danach jedoch war Cuspert noch zumindest in einem 32-minütigen Video des „Wilayat Kavkaz“ (Region oder Provinz „Kaukasus“) des IS zu sehen: In dem russischen Video kommt er neben daghestanischen Jihadisten auf Deutsch (entsprechend russisch untertitelt) zu Wort, beschwört die Solidarität mit der Kaukausus-Fraktion und ruft dazu auf, sich dem IS und seiner Gemeinschaft anzuschließen.

Bemerkenswert ist nun, dass nicht wie sonst die sich ans „Ausland“ richtende IS-Propaganda-Abteilung al-Hayat Media Center (in deren Videos Cuspert auch bislang hauptsächlich auftrat), sondern die russischsprachige Furat („Euphrat“) Media dieses Video produzierte. Und unter dem Furat-Media-Label sind auch die beiden deutschsprachigen „Ritter der Shahada“-Videos entstanden bzw. veröffentlicht. In Charlie Winters Untersuchung der IS-Propaganda (The Virtual ‘Caliphate’: Understanding Islamic State’s Propaganda Strategy, Quilliam) bzw. der darin enthaltenen Übersicht der Medienabteilungen (S. 14) ist Furat Media selbst noch gar nicht aufgeführt. Kein Wunder, denn im selben Monat, Juni 2015, da Winters Studie erschienen ist, trat Furat Media erst auf die Bildfläche. Das von Abu Jihad alias Islam Seit-Umarowitsch Atabijew (Stellvertreter des Georgiers Omar al-Schischani, dem hochrangigen IS-Militärführer) gegründete „PR“-Department hat wie die Nordkaukasus-Brigade im IS-Verbund – in den vergangenen Monaten enorm an Bedeutung im Propagandaensemble des IS gewonnen (siehe dazu die Beiträge der britischen Bloggerin und Journalistin Joanna Paraszczuk HIER und HIER).

Cuspert (2. v. l.) im Furat-Media-Rekrutierungsvideo "Rejoice In The Deal You Have Secured", veröffentl. im August 2015

Dass nun Furat Media und nicht das bislang so dominante al-Hayat Media Center Cuspert in Szene setzt und dazu komplett deutsche Videos produziert ist eine Merkwürdigkeit, die zu Überlegungen und auch Spekulationen einlädt. Diese können von einer Reaktion der Propaganda(systemstruktur) des IS auf die russische Intervention in Syrien über einen sich abzeichnenden Relevanzverlust des al-Hayat Media Centers bzw. eines Konkurrenzkampfes bis zu einer besonderen Allianz zwischen den deutschen und nordkaukasischen Fraktionen zumindest in der Medienarbeit des IS reichen. Auch was Abu Talha al-Almanis / Cusperts Rolle im al-Hayat Media Center anbelangt, stellen sich so zurzeit einige Fragen: Wurde er von al-Hayat an Furat quasi ausgeliehen; war er doch wenigstens so hochrangig, dass er die deutsche Propaganda zum teil- und zeitweise zu Furat Media verlagert hat?

Vorausgesetzt natürlich, dass Cuspert noch lebt. Wobei die Veröffentlichung von „Ritter der Shahada 2“ bzw. Abu Talhas Einsatz darin so oder so strategisch komplexer in seiner Bedeutung ausfällt als es lediglich der Blick auf die wundersame oder medial vorgetäuschte Wiederauferstehung (als Beruhigung der Fans oder Verhöhnung des ihn vielleicht einmal mehr zu eilfertig abschreibenden Westens) nahelegt.

zyw 

17.11.2015

Call for Papers: NTF-Workshop mit Schwerpunkt "Cyber-Terrorismus und digitaler Bilderkrieg" (Februar 2016)


Am 25. u. 26. Feb. 2016 findet in Karlsruhe der 15. Workshop des Netzwerk Terrorismusforschung e.V. statt. Hier der entsprechende Call for Papers; Vorschläge können bis zum 21. Dezember eingereicht werden.

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15. Workshop des Netzwerk Terrorismusforschung e.V.
ausgerichtet vom NTF e.V. in Zusammenarbeit mit dem Fachbereich Kunstwissenschaft und Medientheorie der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe (HfG)
Lorenzstraße 15, 76135 Karlsruhe

Schwerpunktthema: 

 Cyber-Terrorismus und digitaler Bilderkrieg


Datum: Do. 25. / Fr. 26. Februar 2016
Deadline: 21.12.2015

Terrorismus und politische Gewalt sind an mediale Kommunikationsprozesse gekoppelt und beeinflussen im Gegenzug die Medientechnologie. Die symbiotische Beziehung zwischen Medien und Terrorismus beruht auf der Tatsache, dass über Gewalt und Gefahr berichtet werden muss, um zugleich Gegenmaßnahmen zur Friedenssicherung einzuleiten. So verstanden gibt es ein Bedingungsverhältnis zwischen Gewalt, deren Effekt und verschiedenen Reaktionen, das zu einem sogenannten double-bind führt: eine fortwährende Ausdifferenzierung von Gewalt und Gegengewalt.

Zur gegenwärtigen Medientechnologie des Terrorismus gehören diverse Waffen und Medien, darunter das globalste aller Kommunikationssysteme überhaupt: Das Super- oder Meta-Medium Internet. Das World Wide Web ist ein Medium der Extreme, das sich sowohl durch kritische Schwarmintelligenz wie auch von terroristischen Organisationen nutzen lässt. Hier überlagern sich Problemfelder und Narrative im Kampf um Deutungshoheit und Meinungsbildung. Das Internet ist zu einem globalen Schauplatz von Information, Gegendarstellung oder sogar Zensur geworden. Zu den Segnungen der perfektionierten Kommunikation gesellen sich ihre Gefahren wie Hacking, Cyberwar und digitaler Bilderkrieg.

Zu den kommunikativen Online-Aktivitäten von Terroristen zählen nicht nur Vernetzung und Propaganda, sondern auch die Ankündigung von Gewaltakten oder Bekennerschreiben. Digitalisierte Anleitungen zum Bombenbau sind dabei fast wie Reminiszenzen an die analoge Welt zu lesen. Viel aktueller, unsichtbarer, aber genauso gefährlich sind digitale Schlachten wie DDoS-Attacken: das Hacken und symbolische Besetzen von Websites. Im Cyberwar verursachen digitale Angriffe zerstörerische Effekte. Der „IT-Dschihad“ etwa ist bereits ein fester Begriff der Terrorismusforschung. Wo liegen die Grenzen von Kontrolle und Überwachung als effizienten Instrumenten zur Prävention von Angriffen und scheinbaren Garanten der sozialen Ordnung?
Eben dieses Spannungsfeld ist Schwerpunktthema des 15. Workshops des Netzwerks Terrorismusforschung e.V. in Kooperation mit dem Fachbereich Kunstwissenschaft und Medientheorie der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe. Der 15. Workshop steht in thematischem Bezug zur aktuellen Ausstellung „Global Control and Censorship“ (3. Oktober 2015 bis 1. Mai 2016) im Zentrum für Kunst und Medientechnologie ZKM Karlsruhe und wird allen Teilnehmenden den Besuch der Ausstellung ermöglichen.

Leitfragen:
Vorträge können sich u.a. folgenden Themen und Aspekten widmen:
- Diskursive Konstruktion von Terrorismus und politischer Gewalt als Phänomen im Social Web – etwa in politischen bzw. legitimatorischen Debatten um staatliche Überwachung und Zensur
- Medienethische und -rechtliche Herausforderungen im Umgang mit extremen und extremistischen Inhalten im Web
- Alternative Formen und Möglichkeiten von Abwehrmaßnahmen und Kritik gegen Terrorismus, Hetze und Propaganda wie gegen Überwachung und Regulation – nicht zuletzt mit Mitteln der Kunst
- Digitale Identität und Individualität, Privatheit und Öffentlichkeit zwischen terroristischer Adressierung und Ausspähung
- Theorien und Methoden zur Untersuchung des Verhaltens und der Inhalte im Netz, ihre Möglichkeiten und Grenzen – u.a. mit Blick auf die Freiheit der Wissenschaft und ihre Indienstnahme für behördliche oder politische Zwecke. 

Wie stets können im Rahmen des Workshops auch vom Schwerpunkt abweichende Forschungsergebnisse vorgestellt werden. Erwünscht sind ausdrücklich Präsentationen von Nachwuchswissenschaftlern jedweder Fachdisziplin, die sich mit ihren Themen und Projekten der Diskussion stellen wollen.

Die Dauer der Vorträge sollte nicht länger als 20 bis 30 Minuten sein. Im Anschluss findet jeweils eine kurze Diskussion statt.

Vorschläge mit einer kurzen Beschreibung des Inhalts bzw. der Thesen sowie Angaben zur Person (zusammen nicht mehr als 3.000 Zeichen) richten Sie bitte unter Angabe des Betreffs „Paper 15. Workshop“ bis zum 21.12.2015 an: info(at)netzwerk-terrorismusforschung.org

Um Teilnahme-Anmeldung – auch ohne eigene Präsentation – wird ebenfalls bis zum 21.12.2015 gebeten.

Das Programm wird voraussichtlich Mitte Januar 2016 bekanntgegeben.

Organisation und Kontakt:
Sebastian Baden: sebastian.baden(at)netzwerk-terrorismusforschung.org
Bernd Zywietz: bernd.zywietz(at)netzwerk-terrorismusforschung.org

Teilnehmerbeitrag
Die Teilnahme an der Veranstaltung ist kostenlos. Die Übernahme von Reise- und Unterkunftskosten der Teilnehmenden ist seitens des NTF e.V. leider nicht möglich. Alle teilnehmenden Gäste, Referentinnen und Referenten sind angehalten, sich individuell zu organisieren. Für Verpflegung in den Pausen wird gesorgt; dazu werden rechtzeitig Informationen bereitgestellt.

Zum Netzwerk Terrorismusforschung:
Das Netzwerk-Terrorismusforschung e.V. (NTF) ist ein Zusammenschluss von mittlerweile über 400 jungen WissenschaftlerInnen und Fachleuten aus verschiedenen Disziplinen, die sich mit Fragen und Problemen des Themenbereichs Terrorismus, Terrorismusbekämpfung und Sicherheitspolitik befassen. Es soll Kontakte schaffen und als Forum dienen für Ideen- und Informationsaustausch, zur Vorstellung von Projekten sowie deren gemeinsamer Initiierung, Planung und Realisierung. Das zentrale Werkzeug ist neben der Website und dem Mailverteiler der halbjährlich stattfindende Workshop. Auf diesem können laufende wie abgeschlossene Arbeiten sowie Projekte präsentiert und diskutiert werden. Das Netzwerk Terrorismusforschung steht darüber hinaus Interessierten aus Medien, Verwaltung und Politik offen und bei Anfragen – z.B. für den Kontakt mit Experten bei spezifischen Fragen – zur Verfügung. http://www.netzwerk-terrorismusforschung.org

Mitgliedschaft
Gerne dürfen Sie unseren Verein NTF e.V. durch Mitgliedschaft oder Spende in seiner Arbeit unterstützen: http://www.netzwerk-terrorismusforschung.org/index.php/mitgliedschaft


 



Lese-Tipp: "Jihad im Internet" auf Erasmus Monitor

Einen lesenswerten Beitrag zum Thema Online-Propaganda und vor allem der unübersichtlichen und damit Ressourcen bindenden Grenze (bzw. Grenzverwischung) zwischen "offizieller" Jihadisten-Medien, quasi echten Glaubenskriegern und einfachen, aber dank Web 2.0-Enthierarchisierung und Gestaltungs- und Selbstpräsentationskompetenzen aufmerksamkeitswirksamen "Fanboys" (als 'Komplexitätsreduktionisten') bietet der Blog Erasmus Monitor unter dem Titel "Jihad im Internet" vom 9. November.

So treiben die selbsterkorenen Experten und Möchtegern-Radikalen teils geschmacklosen Schabernack, aber nicht leider nicht nur:

"Ernster wird es [...], wenn diese Cyberjihadisten im Namen des IS oder al-Qaida zu Gewalt oder gar Anschlägen im Westen aufrufen. Denn für Sicherheitsbehörden und Beobachter ist häufig nicht ersichtlich, ob diese Drohungen auch tatsächlich Substanz haben, oder doch nur den üblen Launen frustrierter junger Leute geschuldet sind. Da kann es dann schon mal passieren, dass Mediendienstleister wie "SITE Intelligence Group" zu peinlichen Fehlanalysen kommen."

Auch sehr aktuell: die Staatshilfe durch Hacktivisten wie Anonymus. Kurz vor den Anschlägen von Paris veröffentlicht, ist der Erasmus-Monitor-Beitrag heute von unvorhergesehener Aktualität. So dass Hackerkollektiv just dem "Islamischen Staat" den Krieg erklärt hat.

Zu finden ist der Text "Jihad im Internet" HIER.

14.11.2015

IS-Audiobotschaft: "Islamische Staat" eindeutig hinter Paris-Anschlägen?


Die Anschlagsserie in Paris, die an die Attacke auf Mumbai 2008, aber auch an die langlaufende Kampagne der "Balcombe Street Gang", eine IRA-Zelle, die London 1974 / 1975 terrorisierte, gemahnt, hat die Welt erschüttert. Mittlerweile gilt als mehr oder weniger gesichtert, dass es sich um eine Aktion des "Islamischen Staat" handelt, der sich mit dieser großangelegten "Killing Spree"-Operation für die französische Teilnahme an der Militärkoalition gegen ihn rächen möchte. Staatspräsident François Hollande spricht von "Krieg", Spekulationen über einen möglichen NATO-Bündnisfall kursieren.

Der 13. November 2015 würde Experten wie Guido Steinberg wiedersprechen, die al-Qaida nach wie vor für die größere Bedrohung für Europa einschätz(t)en. Dies zum einen, weil der IS hinreichend in der arabischen Welt und vor allem natürlich in Syrien und im Irak mit der Konsolidierung und Expansion seines "Kalifats" beschäftigt ist. Zum anderen, weil der IS eine andere Strategie verfolgt als al-Qaida, die verstärkt auf eine terroristische Zermürbung der "fernen Feinde", des Westens (u. v.a. der USA) als Stütze und Komplize der "glaubensverräterischen" Regime in der Region, hinarbeitete. Dies eben mit aufsehenerregenden Anschlägen wie natürlich und v.a. 11.-September-Anschlägen. Der IS hingegen setzte und setzt auf eine "Clear-and-Hold"-Methode: Kontrolle gewinnen über ein Gebiet und das Schaffen von Fakten darin - eben der Errichtung eines "Islamischen Staats", der bei AQ Langfristziel ist.

Allerdings mögen die Täter vielleicht im Namen des IS gehandelt haben (was noch zur Zeit noch nicht wirklich bestätigt ist). Das bedeutet jedoch noch lange nicht, dass der IS selbst direkt hinter der Paris-Attacke - vor allem federführend - steht.

Vielleicht liegen den Sicherheitsbehörden bereits weitere, bestätigende Informationen vor - solche, die (noch) nicht das Licht der Öffentlichkeit erblicken dürfen. Auch hat man mit Salim Benghalem bereits einen notorischen IS-Kämpfer als potenziellen Hintermann im Visier. Und natürlich sind in puncto Ausmaß, Vorbereitung (die Planung) und Mitteln (der Einsatz von Sprengstoffgürteln neben den AK-Sturmgewehren; die Anzahl der Täter) die Angriffe auf das Stade de France, der tödliche Zug durch die Stadt und das Massaker im Bataclan-Klub wenig vergleichbar mit den "Lone-Wolf-"Attacken in Frankreich, in Australien oder in Paris im Februar (gemeint ist nicht das "Charlie Hebdo"-Attentat; dies war eben eine von jemenitischen al-Qaida-Filiale initiierte Tat). Gleichwohl ist nach wie vor nicht auszuschließen, dass es sich hier um eine vielleicht unterstützte, nichtsdestotrotz relativ eigenständig agierende Gruppe handelte, die ohne (zumindest: Detail-)Wissen und Einsatzauftrag durch die IS-Spitze um Abu Bakr al-Baghdadi alias Kalif Ibrahim gemordet hat. Oder die vielleicht doch eher Kontakte zu "al-Qaida auf der arabischen Halbinsel" hatte...

Das Statement des IS zum terroristischen Simultan-Angriff auf Paris, der mittlerweile als Beleg dient, ist jedenfalls nur ein dünner Beleg für Verantwortlichkeit (um nicht zu sagen "Urheberschaft"). Die Audiobotschaft, die auf arabisch und englisch vorliegt (in letzter Variante eingesprochen von dem gleichen englischsprachigen Off-Kommentator der meisten al-Hayat-Media-Videos, jenen Propagandafilme, die sich gezielt an ein westliches Publikum richten) und die als Trankskript nun im Netz zirkuliert, spricht von den Paris-Tätern allgemein nur als "Brüdern". Weitergehend reklamiert der IS die von IS-Fans in den Sozialen Medien gefeierte Aktion für sich nicht.

IS-Fan-Tweet zu den Paris-Anschlägen am 13. November

Zudem führt die Botschaft nur recht allgemeine Informationen auf, die in der Form ein wenig klingen, als habe die IS-Propagandaabteilung selbst sich maßgeblich an den internationalen Online-News-Feeds ad hoc bedient. Gerade wenn bzw. weil die Anschlagsserie von längerer Hand geplant und vorbereitet worden sein muss, würde man eventuell in Sachen Bekennerschaft eine gleichsamt größer vorbereitete mediale Ausschlachtung erwarten. Nicht zuletzt eine, die mit mehr Details und mehr "Stolz" über den Schlag gegen die "Kreuzzügler"-Nation aufwartet.

Und tatsächlich wird in dem Audiobotschaft zwar angesprochen, dass Frankreich und andere Staaten gegen den Islamischen Staat (wie den Islam überhaupt) zu Felde zögen und sie damit auf der Zielliste des IS stünden - entsprechend sei Paris eine Warnung für alle "who whish to take heat". Doch sonst nichts macht die Verlautbarung zu einer Selbstbezichtigung - vor allem wenig Konkretes.

Entsprechend lässt sich - wie die freudigen Kommentare und Bilder des IS-Sympathisanten auf Twitter und Co. - die IS-Veröffentlichung vor allem und in erster Linie lesen als Begrüßung einer Terrortat, einem fürchterlichern "Erfolg" in Namen des IS, auf den den der IS hier womöglich nach den Luftangriffen auf die Öl-Felder in seinem Territorium vor allem aber selbst aufsattelt.

Etwas, wobei ihm nicht zuletzt die Medien vielleicht ein wenig zu vorschnell behilflich sein könnten,

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Auch wenn ich aus mehreren und offensichtlichen Gründen sonst davon absehe, hier Propaganda und sonstige Materialen aus IS- u. IS-assoziierten Quellen zu verlinken, sei hier angesichts der aktuellen Spekulationen über Hintergründe und Hintermänner von Paris und in Zusammenhang mit obigen Überlegungen (gegen die es durchaus vieles einzuwenden gäbe) auf die angesprochene Audio-Botschaft als Artefakt verwiesen. Sie finden diese - zumindest noch zu diesem Zeitpunkt direkt HIER auf archive.org.

Ein Transkript finden Sie HIER.

12.11.2015

BMVg-Bericht zur Veranstaltung "Hybride Kriege"


Schon etwas älter, aber jetzt erst entdeckt:

Bericht auf der Website des Bundesverteidigungsministeriums über die Podiumsdiskussion zum Thema "Hybride Kriegen - Die Ohnmacht der Gegner" des zebis (Zentrum für ethische Bildung in den Streitkräften), bei der ich als Fachmann für Online-Propaganda u.a. neben Prof. Herfried Münkler, Christian Mölling von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) und Dr. David Wetham  teilnehmen durfte:

"Hybride Kriege: Bleibt uns nur die Ohnmacht?" von Florian Manthey


Bild: BMVg / Manthey

14.10.2015

ZDF: Förderte BND und SITE Propaganda des "Islamischen Staats"?


In einem Frontal 24-Beitrag berichtet das ZDF über den Aussteiger Irfan Peci, der als Dschihadisten-Web-Propagandist für den deutschen Ableger der GIMF, die Global Islamic Media Front, Mitte/Ende der 2000er tätig war. Peci, der vor fünf Monaten das Buch Der Dschihadist: Terror made in Germany - Bericht aus einer dunklen Welt veröffentlichte, sei vom Verfassungsschutz angeworben worden.

Laut ZDF-Beitrag nun habe der deutsche Auslandsgeheimdienst BND die Propagandaplattform zumindest weiterlaufen lassen. Dass die private US-Aufklärungsfirma SITE Intelligence Group mit im Boot gewesen sein soll, macht die Sache noch brisanter.

Allerdings: Der TV-Bericht ist zumindest insofern mißverständlich, insofern gleich zum Auftakt die aktuelle IS-Propaganda zum Aufhänger gemacht und entsprechend mit Pecis Online-PR in Sachen Heiliger Krieg assoziiert wird. Mit dem aktuellen "Islamischen Staat" und seiner Propaganda hatten freilich die GIMF, Peci und seine Kumpane Ende der 2000er mediengestalterisch (mithin von der Attraktionskraft her), konfliktbezogen und organisatorisch höchstens indirekt etwas zu tun: die GIMF ist Medienarm v.a. von al-Qaida, mit der sich der IS mittlerweile zerstritten hat. Fluchtpunkt ist dahingehend nicht Syrien oder der Irak, sondern Afghanistan/Pakistan. Pecis Enthüllung bzw. des Teams um Elmar Theveßen sind mithin nicht so brandaktuell, wie es suggeriert wird.

Und tatsächlich wird der Fall Peci (hier als "Irfan P. aus Weiden in der Opferpfalz") bereits in Wolf Schmidts 2012 erschienenen Buch Jung, deutsch, Taliban (auch zu beziehen über die Bundeszentrale für politische Bildung) beschrieben - inklusive der Verstrickungen von SITE.

Den F24-Beitrag finden Sie noch HIER in der ZDF-Mediathek, ebenso die längere ZDFinfo-Dokumentation "Islamist im Staatsauftrag". 



04.10.2015

In eigener Sache: Vorträge zum Thema Terrorismus, IS & Propaganda


Dass ich hier in der letzten Zeit wenig eingestellt habe, tut mir leid, allerdings habe ich gute (sprich: fach- bzw. themenspezifische Gründe).

Zum einen haben ich meine Doktorarbeit für die Veröffentlichung fertig gestellt. Ende des Jahres oder Anfang des kommenden wird "Terrorismus im Spielfilm: Konflikte - Genres - Figuren" im Verlag VS Springer in Wiesbaden erscheinen.

Darüber hinaus bereite ich mehrere Vorträge vor:

Unter dem Titel "Mediale Pyrrhussiege und verlorene Schlachten? - Zu den Herausforderungen im Umgang mit dem IS und seiner Propaganda" referiere ich kommende Woche auf einem Intensiv-Seminar für Redakteure zum Thema "Islamismus" (eine Veranstaltung in Kooperation mit dem Verband der Zeitungsverleger in Rheinland-Pfalz und Saarland).

Anfang November stehen dann zwei Vorträge in Nordhessen vor Schülern an: Am 4. November an der Edertalschule und am 5 Nov. in der Hans-Viessmann-Schule (beide in Frankenberg / Eder). Titel: "Terrorvideos - Die Propaganda des 'Islamischen Staat' un die Rolle der Sozialen Medien". Am Abend des 4. Nov. findet zusätzlich ein Referat zum Thema "Islamischer Staat: Gewalt als Strategie - Wie der IS handelt und wirbt" über Ziele, Aufbau und Arbeitsweisen des IS ebenfalls in Frankenberg statt. (Veranstalter u. Mitorganisator der drei Termine ist die Gesellschaft für Sicherheitspolitik e.V.).

Zumindest für meine Arbeiten an einem Buch über die IS-Propaganda und deren Herausforderungen für Medien und die Gesellschaft ist das kein Zeitverlust, sondern Gelegenheit, Material auf- und vorzubereiten sowie einige Thesen und Aspekte vorab zu diskutieren bzw. Informationen und Feedback von Experten einzuholen: von JournalistInnen und RedakteurInnnen wie von Kindern und Jugendlichen. Letztere haben schließlich eine eigene Web 2.0-Lebenswelt. Eine, in der Facebook schon wieder 'out' ist. Ein wichtiger Punkt, den es zu berücksichtigen geht, wenn von der Gefährdung durch Propaganda in Sozialen Netzen gerade für Jüngere die Rede ist.

zyw

31.08.2015

ZDF vermeldet: TV-Film über Beate Zschäpe abgedreht


Während die Constantin Film und Oliver Berben an einer Verfilmung des Buches Heimatschutz - Der Staat und die Mordserie des NSU von Stefan Aust und Dirk Laabs fürs Kino arbeiten und die ARD einen TV-Dreiteiler mit Anna Maria Mühe, Albrecht Schuch und Sebastian Urzendowsky als dem Terror-Trio des selbsternannten "Nationalsozialistischen Untergrunds" für 2016 in der Pipeline haben, gibt jetzt auch das ZDF bekannt: "Dreharbeiten für ZDF-Dokudrama über Beate Zschäpe sind abgeschlossen".



Die Pressemitteilung dazu:

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"Letzte Ausfahrt Jena" mit Lisa Wagner, Joachim Król und Axel Milberg
 
Kein Gerichtsverfahren bewegt die Öffentlichkeit derzeit mehr als der NSU-Prozess vor dem Oberlandesgericht München. Für ein ZDF-Dokudrama über die aus Jena stammende Rechtsextremistin Beate Zschäpe, Arbeitstitel "Letzte Ausfahrt Jena", wurde am vergangenen Wochenende die letzte Einstellung gedreht. 
 
Neben Joachim Król als ermittelnder Kriminalhauptkommissar standen Axel Milberg in der Rolle des Richters Götzl, Christina Große als Kriminaloberkommissarin und Lisa Wagner als Beate Zschäpe vor der Kamera. Das Drehbuch stammt von Hannah und Raymond Ley. Grimme-Preisträger Ley führte auch Regie. 
 
Seit dem 6. Mai 2013 muss sich Zschäpe wegen mutmaßlicher Mittäterschaft an den grausamen Morden des Nationalsozialistischen Untergrunds vor Gericht verantworten. "Letzte Ausfahrt Jena" erzählt ihre Reise im Polizeikonvoi noch vor Prozessbeginn – von der Haftanstalt Köln nach Thüringen und zurück. Die Angeklagte sollte ihre kranke Großmutter und Mutter noch einmal besuchen können.  "Die Form des Dokudramas bietet die Möglichkeit, die von Ermittlern begleitete Reise der rätselhaften Person Beate Zschäpe von Köln nach Thüringen in szenischen Bildern zu erzählen und sie mit Momenten des späteren Prozesses zu kontrastieren", so Peter Arens, ZDF-Hauptredaktionsleiter Kultur, Geschichte und Wissenschaft. 

Die Dreharbeiten fanden an Originalmotiven entlang der Route Köln, Jena, Gera sowie in Berlin und Umgebung statt. Die Spielszenen des 90-minütigen Dokudramas stützen sich auf die Ergebnisse eines Teams von Rechercheuren, auf dokumentarisches Material sowie auf Protokolle von Prozessbeobachtern. Originalaufnahmen aus Archiven und Gespräche mit Angehörigen der Opfer in der Türkei ergänzen die szenischen Passagen. 
 
"Letzte Ausfahrt Jena" ist eine Produktion der AVE Gesellschaft für Fernsehproduktion in Koproduktion mit UFA FICTION im Auftrag des ZDF. Produzenten sind M. Walid Nakschbandi und Nico Hofmann. Die Redaktion haben Stefan Brauburger und Stefan Mausbach, ZDF-Zeitgeschichte. Ein Sendetermin steht noch nicht fest. 

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Der Titel LETZTE AUSFAHRT JENA assoziiert natürlich Letzte Ausfahrt Brooklyn (Last Exit to Brookly), Hubert Shelbys episodischen Skandal- und Kultroman von 1964 über die brutale Tristesse im desolaten Teil des New Yorker Stadtbezirks. Inwiefern mit der Anspielung allerdings eine Aussage über Jena impliziert ist, sei dahingehstellt.

Shelbys Buch verfilmte 1989 übrigens Uli Edel. Jener Regisseur, der mit Bernd Eichinger ein anderes deutsches Terrorismusthema (allerdings ein linkes) für die Constantin und nach einem Buch von Stephan Aust inszenierte: DER BAADER MEINHOF KOMPLEX.


zyw 

15.08.2015

Anti-IS-Kampagne: #NotAnotherBrother


Unter dem Hashtag-Titel #NotAnotherBrother ("Kein weiterer Bruder") hat die in London ansässige Quilliam Foundation mit einem YouTube-Video am 3. August eine Kampagne gegen die Indoktrination v.a. des IS und all jener, die ihm zuarbeiten, gestartet.

Zu sehen ist ein verschmutzter, geschundener Mujahid in einem Kellerloch, der in seiner Kleidung den Brief seines Bruders findet. Darin - die Worte werden als Voice-Over über die Bilder gelegt - bereut dieser, zur Radikalisierung des jungen Gotteskriegers beigetragen zu haben. "Don't let your words turn our brothers into weapons", so die finale Message-Einblendung. Den Clip mit eine Lauflänge von 1 Min. 41 gibt es auch in einer fast vierminütigen "extended" Fassung (s.u.).


Quilliam dazu: "These films, generously supported through a crowdfunding campaign by a cross-section of the general public, are examples of counter-narrative videos." Quilliam-Vorsitzender Maajid Nawaz hofft, damit andere Nutzer zu inspirieren, ihre eigenen Gegenerzählungen zu kreieren und im Netz weiterzuverbreiten. "Only by uniting, as a civil society, behind human rights values and against the social ill of Islamist extremism, can we truly defeat it."

Zuvor schon hatten hochrangige Google-Mitarbeiter dazu aufgerufen, die Online-Propaganda des Islamischen Staates zu bekämpfen - u.a. durch Gegen-"Botschaften" auf der hauseigenen Plattform YouTube.

Die Quilliam Foundation ist ein 2008 von Ed Husain, Maajid Nawaz und Rashad Zaman Ali gegründeter Think Tank, der sich speziell mit islamistischen Extremismus und mögliche Gegenmaßnahmen befasst. 

Auf Twitter kann man der Kampagne #NotAnotherBrother folgen unter twitter.com/notanotherbro.

Kurzfassung des #NotAnotherBrother-Videos (1'41):




Die Langfassung (3'45):


09.08.2015

Batman vs. Bin Laden: Comics gegen Extremismus


In der ZEIT-Ausgabe Nr. 32/2015 (S. 46) findet sich unter dem Titel "Zeichnen gegen den Terror" ein Artikel von Andrea Böhm, der den jordanischen Künstler Suleiman Bakhit und seine Arbeit vorstellt. Der Sohn eines ehemaligen Politikes erfuhr am eigenen Leib die Muslimfeindlichkeit in den USA nach dem 11. September 2001 und entschloss sich, gegen die Heldennarrative von Terroristen und Fundamentalisten in seiner Heimat anzugehen und inspirierende Alternativen Kindern an die Hand zu geben, die bis dahin höchsten Osama bin Laden oder Aiman al-Zawahiri als Heroen zu nennen wussten. Bakhits "Gegenpropaganda" (oder Prophylaxe) sind Sci-Fi- und Superhelden-Comics, die es so in der arabischen Welt noch nicht gibt und für die sich Bakhit nicht an Marvel, sondern an japanischen Mangas orientierte. Ergebnis ist u.a. die Reihe "Element Zero" über eine rein weibliche Anti-Terror-Truppe.

Lesenswert ist der Beitrag auch wegen des Verweises auf andere popkulturelle Versuche, im Nahen und Mittleren Osten, islamistischer Indoktrination und etwa frauenfeindlichen Weltbildern vorzubeugen, ohne die islamische Kultur für westliche Unterhaltungsformen und Denkarten aufzugeben.

Einen rund elfminütigen Vortrag von Suleiman Bakhit auf dem Oslo Freedom Forum aus dem Jahr 2014, auf dem er auch auf die grundlegende Bedeutung und Relevanz von Erzählungen für die Sinnstiftung und die "Krieg gegen den Islam"-Narrative von IS und Co. eingeht, finden Sie hier:


   

26.07.2015

Tipp: Podcast Lamya Kaddor u. Guido Steinberg




In der Sendereihe "Hörsaal" präsentiert DRadio Wissen zwei Vorträge (einmal plus Interview) zu Radikalisierung, Jihadismus und "Islamischer Staat".

Die bekannte Islamwissenschaftlerin und -lehrerin Lamya Kaddor, Autorin des Buches Zum Töten bereit. Warum deutsche Jugendliche in den Dschihad ziehen, berichtet in Vortrag u. Gespräch von der Anziehungskraft der Salafisten und Gotteskriegern, präsentiert dabei aber auch interessante zu grundlegenden Glaubenskonzepten des Islam, von Sunna und Koran und ihren Ausdeutung. (Mehr Infos: HIER, direkter Download-Link: HIER)

Der ebenfalls im Fernsehen oft und gern gesehene Islamwissenschaftler und Jihadismus-Experte Guido Steinberg von der Stiftung Wissenschaft und Politik (Autor u.a. von: Al-Qaidas deutsche Kämpferund Kalifat des Schreckens) wiederum klärt über die Entstehungsgeschichte des IS auf und gibt eine Einschätzung zur aktuelleren Bedrohungslage: "Für Europa ist Al Kaida die größere Gefahr, für die arabische Welt, für die Türkei ist der IS die größere Gefahr." (Mehr Infos: HIER. Direkter Download-Link: HIER).

zyw

06.07.2015

Ferne Ohnmacht des Gott-Soldaten: GOOD KILL - Andrew Niccols postheroistischer Anti-Kriegsfilm über den Drohnenkrieg





GOOD KILL (USA 2014) ist ein hochaktueller Film, und das auf mehreren, verbundenen Ebenen. Am 27. Juli zeigt ihn das ZDF zusammen mit einer Dokumentation zum Thema Drohnenkrieg – bei aller berechtigter Schelte ein Beleg mehr für die Güte des öffentlich-rechtlichen Fernsehens in Deutschland. Nur wäre die repräsentative Hauptsendezeit noch besser gewesen als der relativ späte Termin um/ab 22.15 Uhr, allein um die Bedeutung des Themas herauszuheben.

I.
GOOD KILL ist ein Film, der zunächst natürlich über sein Thema und dessen politische Tagesagenda Relevanz besitzt: das Drohnen-Programm der USA v.a. in Wasiristan, der pakistanischen Grenz- oder Stammesgebiet, bei dem nicht nur Aufklärung betrieben wird, sondern Menschen gezielt oder als „Kollateralschäden“ getötet werden. Auch die Bundeswehr hat bzw. will sich diese Waffentechnik (s. HIER u. HIER) zulegen, das E-Journal „Ethik und Militär“ des Zentrums für Ethik in den Streitkräften (zebis) widmete dem Thema seine erste Ausgabe im Jahr 2014. „Anonymes Töten durch neue Technologien? Der Soldat zwischen Gewissen und Maschine“ ist das Editorial von Dr. Veronika Bock darin betietlt, und diese wie weitere Aspekte verhandelt GOOD KILL.

Von dem gebürtigen Neuseeländer Andrew Niccol geschrieben und inszeniert (zu ihm und seinem Gesamtwerk weiter unten mehr) geht es in GOOD KILL um den US-Luftwaffenpiloten Major Thomas Egan (Ethan Hawke), der zusammen mit Kameraden über Monitore auf staubige Straßen und Häuser und Afghanistan (später Jemen) hinunterschaut, Personen beobachtet – und ggf. Raketen abfeuert, auf dass sich die ferne Kulisse in stummem Lichtblitz und Staubwolke auflöst. So geschieht es gleich zum Anfang des Films; ein sich nähernder Reisebus wird zum Glück verschont, die Terroristenversammlung am Straßenrand jedoch ausradiert. Hernach verlässt Egan den Container im Wüstensand; man mag (oder soll) ihn selbst in Pakistan, im Irak oder sonst wo in der Region wähnen, doch als er mit seinem Mustang von der Luftwaffenbasis rollt, sich das so glamouröse wie futuristische Panorama zur Rockmusik im Wagen auftut, wird klar: wir sind Tausende von Kilometern entfernt, in Las Vegas. Dort hat in einem Retorten-Vorort Egan eine Ehefrau Molly (Mad-Men-Star January Jones) und zwei Kinder, doch trotz „9 to 5“-Job läuft es nicht rund in der Familie des schweigsamen Militärs. Zuvor schon wurde klar: Egan will zurück in eine echte Maschine, doch – wie sein jovialer Chef (Bruce Greenwood) im bescheidet, ist unwahrscheinlich: Wurden wie Egan einst gestandene Piloten zum Einsatz am Joystick abkommandiert, stellt man nun immer mehr Unerfahrene ab, denn Drohnflüge „boomen“, sind effektiv, verhältnismäßig günstig, brauchen keine (mithin: gefährdeten) Männer an Bord wie „echte“ Jets. Gegenüber dem „virtuellen“ oder zumindest ferngelenkten Krieg ist der alte, klassische ein Auslaufmodell.

Sechs Taliban habe er heute getötet, so Egan, auf seine Uniform angesprochen in dem Laden, in dem er auf dem Weg nach Hause hält und seinen harten Alkohol kauft. Jetzt fahre er heim, um zu grillen.


„Sie verlassen die USA“ steht es sarkastisch au einem Zettel an der Tür der „Cockpit“-Container in Nevada. Oder einem zynischem. Denn Egans Entfremdung – die von seiner Familie, seinem Job – ist die eine thematische Linie des Films, tatsächlich auch die interessanteste, weil allgemeinere, ambivalente und tiefreichende, eine psychologische und (nicht nur technik- und kriegs-) kulturelle. Eine, zu der u.a. allgemeiner Herfried Münkler („Held und Mythos in der Moderne“) und spezieller Ulrich Bröckling („Die Politik der gezielten Tötung und das Ende des militärischen Heroismus: Drohnen“) an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg in verschiedenen, aber verwandten Ringvorlesungen vorgetragen haben (Veranstaltung des Sonderforschungsbereichs „Helden – Heroisierung – Heroismen“). GOOD KILL wirkt oft wie eine Verfilmung dieser angesprochenen Probleme, Thesen, Positionen. Es geht um die „Feigheit“ des Überwachens, des Tötens aus der Ferne mit „unbe-“/ „ent“mannten Fluggeräten, den Charakter eines in mehrfacher Hinsicht entgrenzten, entgrenzenden „Playstation“-Krieges, die Rolle des Soldaten und seine Eigenwahrnehmung, seine Heldenposition sich und der Gesellschaft gegenüber, die Asymmetrie und Übermacht dank Science-Fiction-hafter, irrealer oder irrealisierender Verlängerung von Auge und Arm, die die Körper anderer ihm und seinem Handeln ausliefert, seinen eigenen aber unerreichbar und in einem „Globalen Krieg gegen den Terror“ daheim, im „Homeland“ belässt.

GOOD KILL ist, indirekt, denn auch ein Film über die Attraktivität und Faszinationskraft des „Islamischen Staates“ oder anderer jihadistischer Gruppen, nicht nur für seine Anhänger oder Sympathisanten, sondern auch, freilich negativ besetzt, für uns, die wir sie als Barbaren ablehnen. In einem Video des IS (oder seiner „Fanboys“), das ironischer Weise sich die populäre Games-Reihe GTA – Grand Theft Auto zu eigen macht, heißt es gem. einleitender Texttafel sinngemäß: „Die Computerspiele, die ihr euch ausgedacht habt, die leben wir aus auf dem realen Schlachtfeld“. In schönster kontrastiver Ergänzung hat wiederum das Pentagon die Idee eines hochrangigen Ordens für Drohnenpiloten nach zwei Monaten, viel Protest und Häme zurückgezogen. Von einer „Nintendo Medal“ (in Anspielung auf die populäre Spielekonsole) war die Rede. Entsprechend ist GOOD KILL ein Film, der zwischen Authentizitätsversprechen und Kriegs-Virtuality den Finger in eine Wunde legt, die durch mehr geschlagen wurde und wird als bloß durch die ethisch herausforderungsreiche geo- und ideopolitischen Konfrontation oder zumindest Gegeneinander-Setzung zwischen „Islamismus“ und „Westen“. Es ist ein Film über eine generelle Welterfahrungs- und -wahrnehmungsdissonanz, die eine grundlegende, primär mediale bzw. technosoziale und -kulturelle ist. Eine, die nicht nur Räume und Orte ineinanderschiebt, ineinander aufhebt und auflöst, sondern auch den modernen Menschen in seiner medialen Verfasstheit als krisenhaftes Konstrukt begreift.  

Hier ist man schnell bei den großen spezifischen Text-Kalibern – vor allem Michel Foucaults berühmtes Buch „Überwachen und Strafen“ mit der Kontrolle des Blickes (dem „Panoptikum“ nach Jeremy Bentham), und in diesem Sinne ist GOOD KILL bemerkenswert in seiner abstrakteren Sinnhaftigkeit. Die Drohnen sind hier unsichtbarer, unentgehbarer Blick und Faust eines zornigen (allzu menschlichen) „Gottes“, der aus buchstäblich „heiteren Himmel“ zuschlagen kann (bei allzu dichter, tiefer Wolkendecke sind die Drohnen nutzlos – was wiederum die Debatte Geospezifik der Konflikte aufmacht). Im Verlauf des Filmes und mit dem Verfall des Menschen Egan wird die Vogelperspektive des Films immer mehr auf Egans eigene „Heimat“ und sein Leben angewendet. Doch dieser militärische Prothesen-Gott ist kein absoluter weil eben doch nur allzu menschlicher und mithin selbst kontrolliert, „gesehen“, dirigiert. Da ist das Kruzifix an der Wand, entsprechend über oder hinter Egan bildgestalterisch positioniert, das auf eine noch höhere  Macht verweist (die des eigenen Gewissens, religiöser wie zivilisatorischer Gebote – „Du sollst nicht töten“).

Diese überwachenden, vernichtenden Halbgötter sind vor allem nicht nur fehlbar, sondern auch nicht allmächtig. Hilflos müssen sie vom Himmel aus zusehen, wie in einem Hinterhof eine Muslima von einem niederen Taliban-Chargen wiederholt vergewaltigt wird, ohne einschreiten zu können oder zu dürfen, weil das bei allen hehren Worten von Schutz und Verteidigung nicht ihrem Einsatzbefehl entspricht. Was einmal mehr die große Geo-, Macht- und Sicherheitspolitik als abstraktes Spiel ausweist, das mit dem realen direkten Leben des Einzelnen kaum mehr oder schlimmer noch: in einem Widerspruchsverhältnis zu tun hat.

Wenn zuletzt – Achtung, Spoiler! – der von der Familie verlassene, seine Dienstpflicht-Kriegsmorde nicht verwindende Egan rein aus „moralischer“ Selbstermächtigung den Schänder im Alleingang und zur Beendigung seiner Karriere tötet, wird dem Publikum eindringlich die Unkontrollierbarkeit und Begrenztheit vor Augen geführt: für zähe, lange Momente bleibt unklar, ob der zerbrochene Militär-Heroe nicht auch die umgebracht hat, die er zu rächen und vor den Übergriffen zu bewahren trachtete.


II.
Hinzu kommt nämlich – und dahingehend übernimmt sich Niccol engagiert, aber kontraproduktiv –, dass neben dem Kruzifix (und mithin der persönlichen Moral) noch eine weltliche Befehlsgewalt installiert wird. Die Crew wird (auf der zweiten, parallelen Themen-Linie) an die CIA abkommandiert, die nun allein auf fragwürdiger Basis Anschläge aus der Ferne anordnet. Reduziert auf eine lautgestellte Stimme im Telefon bzw. (bildlich) den entsprechende Freisprechknopf müssen die Dronenpiloten, nun selbst ferngelenkt, samt ihren Navigatoren nun auch bewusst Zivilisten in die Luft jagen, Helfende nach einer Attacke („Nachfassen“). Nur Taliban, so die krude Logik, wären nach einem Raketenangriff als erste vor Ort. Tote Frauen und Kinder nimmt man hin, Kriegsfähigkeit und Verhaltensprofile sind exekutionsentscheidend genug. Terrorismus wird, daran lässt GOOD KILL keinen Zweifel, mit Terror beantwortet.

Der Film verliert hierin etwas an seiner Wucht, weil er „gutes“ Militär gegen skrupellose Geheimdienste setzt. Dies ist vereinfacht oder relativiert zumindest die Verantwortung der Streitkräfte, indem es einen relativ wohlfeilen Ersatzmissetäter anbietet, der erzählfunktional die selbst entwickelte Ambivalenz und Ambiguität wieder relativiert oder konterkariert, insofern das Militär zum unwilligen Befehlsempfänger gerät, einer weiteren, zwischengeschalteten „Drohne“. Mit Blick auf den Folter-Report des US-Kongresses und die Zuständigkeitsstreitigkeiten das Drohnen-Programm betreffend ist das nicht falsch, aber doch billig insoweit hier „gute“ gegen „böse“ Verteidigungsinstitution gegeneinander gesetzt werden, deren Auseinanderdividierenden zum einen nur eine ethische Ersatzentscheidung darstellt, zum anderen die Dilemmas zu überdecken droht, die diese Form des Militäreinsatz prinzipiell bedeutet.

Es wäre von einem solchen Spielfilm dahingehend aber wohl zu viel verlangt, eine politisch (wie auch immer definierte) weiter- und tieferführende Analyse und Debatte einzufordern, schlicht weil Spielfilme auch und besonders ganz eigenen Gesetzen der (Unterhaltungs-)Erzählens, immanenten Grenzen der Komplexität – mithin „Einsatzbefehlen“ und „Rules of Engagement“ – gehorchen müssen.

Dies verweist zurück auf den Film als solchen bzw. den Vorbehalten oder gar der Ignoranz von allerlei Sicherheits-„Praktikern“, Politikern sowie Sozial- und PolitikwissenschaftlerInnen gegenüber dem (dezidiert:) Medium „Spielfilm“ als fiktionale Erzählung und Kunstform als ernst zu nehmenden Gegenstand. Spielfilme entstehen nicht im luftleeren Raum, sind Imaginationsbühnen und geistige, moralische und emotionale Spielplätze und dabei geeignet, all jene Diskursbestandteile zu offenbaren, die bei rein faktualen Modi und Textformen der Debatte und Verständigung auch und gerade in Sachen Krieg und Terrorismus schnell verloren gehen, weil zu abstrakt (oder nicht abstrakt genug).


II.
In diesem Sinne ist GOOD KILL dann auch wieder kein wirklich guter Film, weil über die Figuren, die bestimmte (auch Zwischen-)Positionen repräsentieren (Zoë Kravitz als „moralisches Gewissen“ Airman Zuarez, mit der Egan geneigt ist, eine Affäre einzugehen; als Vertreter der volkstümlichen falkenhaft-konfrontativen „George W. Bush“-, der „Die-gegen-Wir“-Linie u.a. der von Jake Abel gespielte M.I.C. Zimmer im Team), über ihre Dialoge und Monologe allzu deutlich und schematisch Standpunkte, Argumente und Sichtweisen und ihre Konflikte referiert sind. GOOD KILL ist dementsprechend ein, wenn auch vielschichtiger, Thesenfilm. Darüber hinaus aber ist er aufschlussreich ausgehend von zwei klassische Konzepten filmwissenschaftlicher Betrachtung: der Autoren- und der Genre-Theorie.

THE HURT LOCKER

Was letzteres betrifft ist GOOD KILL zu betrachten als zeitgenössische Kriegsfilm, dabei aber Gegenentwurf wie Ergänzung zu v.a. Kathryn Bigelows prägendem Film THE HURT LOCKER (USA 2008). Der handelt von einem einen militärischen US-Bombenentschärfer (Jeremy Renner) im Irak. reüssierte bei der Kritik, wurde „Oscar“-prämiert und nimmt mit seinem, enorm körperlichen, viszeralen Unmittelbarkeitsstil die IS-Propaganda-Ästhetik mit vorweg. Wenn auch freilich Hand- und Wackelkameras, kalt-triste Farben und andere Stilismen das Kriegskino seit den 2000ern mit ihren staubigen „Schauplätzen“ ohnehin das Genre dominierten.

Ganz dicht dran ist man in THE HURT LOCKER an Sergeant First Class William James in seinem lebensgefährlichen, nervenaufreibenden und auch moralisch fordernden, weil unter höchstem Zeitdruck Entscheidungen über Leben und Tod erzwingenden Job. Einem Adrenalin-Junkie ist James, der im Einsatz zwischen „rotem“ und „blauem“ Draht entscheiden muss, daheim bei Frau und Kind von der absurden wie banalen Riesenauswahl an Frühstücksmüslis im ordinären Supermarkt zugleich unter- und überfordert ist. Niccols Egan in GOOD KILL ist dahingehend ein Geistes-, Seelen- und entsprechend Leidensverwandter, den der Computer-Spiel-Krieg (allzu sehr:) daheim auf sich selbst zurückwirft, was generell Krieg als Metier und Betätigungsfeld wie auch als „Heimat“ eines spezifischen Typen Menschen – mehr noch: Mann – skizziert.

Die kriegerischen Heroen in ihrer Modellierung als nicht zuletzt Verlorene qua militärtechnologischem "Degradierung" wie moderner Gender-Grenzauflösung werden hierbei entlarvt, in Schutz genommen und zugleich dekonstruiert – mithin Krieg als solcher selbst. Heim und Herd wird dabei erkennbar, als etwas, das für die Krieger wie Politiker als zu verteidigendes Gut und ideologische Projektionsfläche wichtig ist, zugleich aber nur in Imagination und Möglichkeitsform Sinn ergibt, ansonsten, real, einengt, abschreckt, sich in seiner Dekadenz als unwürdig erweist wie in GOOD KILL Las Vegas als Sinnbild eines (US-)westlichen dekadenten Lasterlebens der Strip-Clubs. Das ist das Provokant-Irritierende und ver- wie entschlüsselte Situation, die sich darin ausdrückt: Während frühere Filme – etwa die Action-Streifen der Reagan-Ära (mithin: des Kalten Krieges) – noch bei aller oberflächlichen Amivalenz klar „Freund“ und „Feind“ unterschieden, sind die Helden-Soldaten der Gegenwart verblüffend in die Nähe der terroristischen Gegner gerückt, allerdings mit der verunsicherten Ahnung eines noch pessimistischeren Sinnverlusts neben der ethischen Verunsicherungs als unerreichbarer Techno-Warrior. Unklar bleibt, ob der religiöse Eifer und weltanschauliche Furor der Islamisten dem thetisch oder antithetisch gegenübersteht.

Entsprechend verdammt GOOD KILL zwar die Vergewaltigung der Frau am fernen Hindukusch; Egans eigene Gattin jedoch wird parallel dazu auf die Rolle der Mutter und Ehefrau als angestammte festgeschrieben, eine, die sie in ihrem artifziellen, aber allzu trockenen Vorort-Idyll abhäng davon ist, dass ihr Mann das Auto repariert (seine Aufgabe!), um mobil zu sein. In einer Szene beklagt Molly, dass ihr Thomas nie wirklich wütend würde. Die Distanzierung, die zum Bruch führt, ist nicht bloß die psychologische eines Mannes- und Ehedramas, eine der Verheerungswirkung von Krieg und Gewalt im Privaten, sondern ein geschlechterpolitische in einem weit größeren Rahmen.

Der Unterschied zwischen diese Frauenbildern in Las Vegas und Wasiristan, wo die namenlose Muslime nur Sex-Objekt ist und der Vergewaltigung sofort wieder stumm ihren „Pflichten“ nachgeht, ist auf der Oberfläche ein eklatanter, gegensätzlicher, strukturell, mithin weltanschaulich, jedoch nur ein erschreckend geringer. (Achtung, Spoiler!) Egans Rache am (individuellen) Vergwaltiger ist denn auch ein Akt des Selbstexorzismus und der Selbstvernichtung (oder zumindest -loslösung).

Im Vergleich zu THE HURT LOCKER macht denn auch in diesem Kontext die sinnhafte „langweilige“ Ästhetik einen epistemologischen Unterschied aus. Statt der affektiv-direkten Bildgestaltung, der schmutzigen Physis der Kamerabewegungen, der ausgeblichenen Farben und staubigen Oberflächen bei Bigelow (zuständiger Director of Photography Barry Ackroyds was vormals BBC-Doku-Kameramann und macht er sich v.a. durch die Mitwirkung bei den Filmen Paul Greengrass einen Namen) ist GOOD KILL eingedenk der stillgestellten Dienst- und Heimkehrer-Situation statisch, in relativ warmem, fast pastellartigem, damit „indifferentem“ Bild- und Farbklima gehalten, was das „Aseptische“ von Egans Arbeitsstätte wie Familienheim ebenso unterstreicht wie die Irrealität der Wüstenstadt Las Vegas hervorhebt (Bildgestaltung: Amir Mokri – MAN OF STEELE, LORD OF WAR, TRANFORMERS 2 u. 3). GOOD KILL ist somit allein schon auf der visuellen Ebene ein – auf die Haupt- und Kriegerheldenfigur bezogener – Alptraumentwurf zu THE HURT LOCKER, in dem sich Bombenexperte James am Schluss in eine weitere Einsatzrunde zurück ins Kriegsgebiet rettet, um sich wieder zu spüren. Egan hingegen kehrt der Air Force den Rücken, fährt schließlich weg, zu seiner Familie, immerhin. Optimistisch ist das auch nicht.


III.
Diese sauberen, schön-ästhetisierten visuelle Vorstellung von THE GOOD KILL führt als Handschrift schließlich dezidiert zu Andrew Niccol als auteur, insofern dieser sich nicht nur als ehemaliger Musikvideo-Regisseur, sondern auch als (dahingehend) unterschätzter Sozialkonstruktivist des populären Hollywood-Kinos betätigte und die sterile Ästhetik seiner Filme deren Inhalt wirklichkeitsentlarvend oder zumindest ‑bezweifelnd untermauern, ihm gar einen doppelten Boden unterlegen.

Es ist denn überaus sinnfällig, GOOD KILL in eine Reihe zu stellen und in einer Reihe zu sehen mit THE TRUMAN SHOW (USA 1998, Regier: Peter Weir) und THE TERMINAL (USA 2004, Regie: Steven Spielberg), zu denen Niccol Idee, Drehbuch bzw. Story lieferte, aber auch mit dem von ihm selbst geschriebenen und inszenierten, teils Star-besetzten GATTACA (USA 1997 – bereits hier GOOD-KILL-Hauptdarsteller Ethan Hawke als main character), mit S1M0NE (USA 2002, m. Al Pacino), LORD OF WAR (USA 2005 – m. Nicolas Cage und Hawke in einer Nebenrolle als „moralisch guter“ Ermittler), IN TIME (USA 2011, m. Justin Timberlake) und THE HOST (dt.: SEELEN, USA/Schweiz 2013, nach dem Roman der Twilight-Autorin Stephenie Meyer).

All diese Filme hinterfragen die (oder stellen die Brüchigkeit aus der) „Natürlichkeit“ von Menschen, seinen Konstituenten und „Ich“-Verständnissen (die des Individuellen in Spannungsrelation zum Sozialen), des Menschen Medien im weiteren (v.a. technologischen) Sinne und seine Räume als anthropologische, zugleich politische, ideologische Orte und Geografien.  

Weniger an der großen Story interessiert als daran, die verschiedenen Facetten in den Blick zu nehmen und die verschiedenen Aspekte durchzudeklinieren bietet Niccols Œuvre folgende Szenarien und Visionen:

- TRUMAN SHOW (inszeniert von Peter Weir): Ein Mann (Jim Carrey), aufgewachsen in einer ideal-nostalgischen Küstenstadt, kommt dahinter, dass seine ganze kleine Welt, gottgleich beobachtet und gesteuert von dem Produzenten der Show, nur Kulisse ist und er „Star“ einer „Reality-Show“, beobachtet von abertausend versteckten Kameras (ein vom blauen Himmel fallender Scheinwerfer bildet den Auftakt). Wobei sich bei allen vordergründiger Feier der persönlichen Freiheit gegenüber der medialen Unterhaltungsausbeutung und Manipulation die unterschwellige Frage stellt, inwiefern ein Mensch für die ;illionen von globalen TV-Zuschauern überhaupt in einem solchen (und gestellten) „echten“  Setting und Leben überhaupt „authentisch“ sein kann.
- GATTACA: In einer Zukunftswelt, in der alle Nachkommen genetisch perfektioniert sind oder ausgesondert werden, kauft sich ein junger „natürlich“ geborener, folglich physisch „minderwertiger“ Mann von einem qua Erbgut vorbildlichen, aber durch einen Unfall querschnittsgelähmten depressiven „Helden“ dessen Identität (eine symbiotische Abhängigkeit), um seinen Traum – die Reise zum Mars – zu verwirklichen. Und damit seinem „normalen“ Leben wie dem seiner (Leih-)Existenz einen Sinn zu geben und nachgerade physische „über sich hinaus zu wachsen“.

- S1M0NE: Ein alternder Hollywood-Regisseur und -Produzent entwirft am Computer eine „idealen“ Schauspielerin, der dank digitaler Medienrealität in Filme wie der Celebrity-Realität der Boulevardblätter, Partys und Festivals „wirklich“ und zum Star wird, bis er merkt, dass er selbst von diesem Star bei der Oscar-Verleihung „vergessen“ wird und, nachdem er sie daraufhin „gelöscht“ hat, des Mordes an ihm verdächtigt wird. Die zauberlehrlingshaften "Geister, die ich rief" treffen in dieser Satire auf die Glamour-Welt der Schein- und Retorten-Stars auf den Frankenstein-Mythos der Virtualität, auch der der sozialen Medien.

 - THE TERMINAL (gedreht von Steven Spielberg): Ein Flugreisender (Tom Hanks) aus einem fiktiven Staat verliert aufgrund einer Revolution in seiner Heimat seine Staatsangehörigkeit, während er im Transitbereich des New Yorker Flughafens wartet, weshalb er sich dort über Monate einrichten muss, eine Parallel-Welt begründet und zum (identitätsstiftenden) Feind-Objekt des ihn qua Überwachungskameras beobachtenden Sicherheits-Chefs des Airports wird.

- LORD OF WAR: Die Geschichte eines Waffenhändler (Nicholas Cage) aus kleinen Kreisen, der aufgrund seiner (ex-)sowjetischen Herkunft in Zeiten der noch relativ jungen Globalisierung zum Konfliktzulieferer v.a. in Afrika wird und damit quer zu allen (oder außerhalb aller) Gut-Böse-Linien politischer und moralischer Standards und Autoritäten wird, insofern seine „wertneutrale“ Handelsware (Waffen, Munition, Transportwege und ‑verfahren) Ressource, Zahlungsmittel und generell: realpolitisches Medium sind, was ihn schließlich unantastbar macht, ihn aber auch das Familienglück kostet.

- IN TIME: In einer fiktionalen Zukunft ist (Lebens-)Zeit – bemessen an einem Implantat-Display am Handgelenk – als neue „kapitalistische“ Währung, die entsprechend „verdient“ oder „eingetauscht“ oder freimütig „übertragen“ wird. Als seine Mutter darob stirbt, wird ein Arbeiter (Timberlake) zum Revolutionär und entführt die (sympathisierende) Tochter des Systempatriarchen, der dafür steht, dass die Ressource „(Lebens-)Zeit“ zugunsten der herrschenden Klasse ungerecht verteilt bleibt.

- THE HOST: In einer Zukunftswelt haben (körperlose) außerirdische Existenzen fast die komplette Menschheit übernommen und „befriedet“. Im Konflikt zwischen den letzten rein „humanen“ Rebellen und dem dominanten Alien-System teilt sich nach einer unterbrochenen Implantation die Heldin Körper und Geist mit einer dieser „Seelen“.    
             
GOOD KILL mit seinen Motiven u.a. des übermächtigen, beobachtenden, aber letztlich einflusslosen Gottesblicks (THE TRUMAN SHOW; THE TERMINAL), dem Unglück säenden kapitalistisch-industriellen Herrschafts- und Kommunikationsmittel Waffen und Munition (LORD OF WAR) und der distanzierenden Virtualität (S1M0NE; THE TRUMAN SHOW) sowie der technischen (Möglichkeits-)Bedingtheit von Mensch und condition humana (GATTACA; IN TIME) ist denn ideal beheimatet in der Weltsicht Andrew Niccols. Neben den – eben nicht bloß auf vordergründige Fakes, sondern Denken, Wissen und Sein abstellenden – Simulationsthesen Jean Baudrillards ist GOOD KILL allgemein und grundlegend zu fassen mit den russischen Sci-Fi-Autorenbrüdern Arkadi und Boris Strugazki, zumindest mit dem Titel eines ihrer Hauptwerke: „Es ist nicht leicht, ein Gott zu sein“. Umso mehr als es nur ein Prothesengott ist.
   

GOOD KILL – Montag, 27. Juli, 22.15 Uhr, ZDF.
Anschließend, um 23.50 Uhr: „Drohnenkrieg – Tod aus der Luft“ (Dokumentation von Mona Botros).   


Literatur zum Thema Drohnenkrieg:

- O’Donnell, Mary Ellen (2011): Seductive Drones: Learning from a Decade of Lethal Operations. In: Journal of Law Information and Science. Als PDF HIER.

- Bashir, Shahzad / Crews, Robert D. (Hg.) (2012): Under the Drones. Modern Lives in the Afghanistan-Pakistan Borderlands. Cambridge, MA u.a.O.: Harvard University Press.

- Kaag, John / Kreps, Sarah (2014): Drone Warfare. Cambridge / Malden, MA: Politiy Press.