24.02.2017
Faktor Bildung und die Rolle des Internets. Zur aktuellen „Analyse der Radikalisierungshintergründe und -verläufe“
Der Titel ist sperrig: Analyse der Radikalisierungshintergründe und -verläufe der Personen, die aus islamistischer Motivation aus Deutschland in Richtung Syrien oder Irak ausgereist sind. Doch mit dieser Veröffentlichung, die im Oktober vergangenen Jahres als "Fortschreibung 2016" vorgelegt wurde, präsentieren das Bundeskriminalamt (BKA), das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) und das Hessische Informations- und Kompetenzzentrum gegen Extremismus (HKE) ein wichtiges Papier. Politiker wie Bundesinnenminister Thomas de Maizière und die Chefs von Sicherheitsbehörden werden sich wieder in öffentlichen Auftritten auf die darin präsentierten Zahlen stützen, und die Massenmedien sie zu sozialer, kultureller und politischer Realität weiterverarbeiten, zur Beschreibung einer ordnenden Wirklichkeit.
Vor zwei Jahren habe ich mich (HIER) kritisch dazu geäußert. Nicht, was die Arbeit der Verfasser anbelangt, sondern was den Umgang damit betrifft, die Verkürzungen, Übertreibungen oder jene ungedeckten Interpretationen, die fast unweigerlich ein spezifisches Bild deutscher Dschihadismus-Reisender zeichnen, auf deren Basis wiederum Vorstellungen in den Köpfen geformt und Gegenmaßnahmen geplant und finanziert werden. Und man muss Statistiken nicht fälschen, um seine "alternativen Fakten" zu kreieren, es genügt die "richtige" Auslegung.
Die Informationsbasis der Untersuchung ist nun nochmals breiter und feiner geworden. Ausreisende von Januar 2012 bis Juni 2016 wurden erfasst, 784 Personen sind es, zu denen den Innensicherheitsbehörden (also: nicht der Bundesnachrichtendienst) Informationen vorlagen.
Das sind erheblich mehr als 2014 (378 Fälle) und lässt validere Aussagen zu. Nach wie vor muss aber festgehalten werden (was im Bericht auch geschieht), dass es sich lediglich um quasi eine Fragebogenaktion handelt, eine Zusammenführung bestimmter Informationen aus den Polizeibehörden der Länder und des Bundes sowie des BfV, möglichst einfach und unaufwendig – schließlich habe die Beamten im Alltag auch anderes, wichtigeres zu tun.
So ein Vorgehen ist natürlich legitim, nicht nur hinsichtlich Praktikabilität und Forschungsökonomie. Es ist jedoch, wie ebenfalls und fast entschuldigend erwähnt wird, eben keine tiefergehende qualitative Analyse der Lebensläufe. Und es sind vor allem Daten, die von vornherein unter dem Funktionalitätsaspekt der polizeilichen und geheimdienstlichen Arbeit entstanden. Die Analyse ist also vom Material her eine der Versicherheitlichungs- und Aufklärungsperspektive. Das kommt dann – auch explizit – zum Tragen, wenn es um die Radikalisierung geht: Deren Beginn wird informationell erst da angesetzt, wo sie für die entsprechenden Behörden signifikant werden. Das ist natürlich eine handfeste Einschränkung; Radikalisierungsprozesse starten aber meist schon vorher, was dann aber nicht oder nur indirekt ins „Wissens“-Raster fehlt. Auch das wird freilich eingestanden, fällt aber gleichwohl ins Gewicht.
Zwei Punkte möchte ich an dieser Stelle näher betrachten, weil sie mir nicht nur für meine eigene Arbeit relevant und interessant erscheinen: Die der Bildung und die Rolle des Internets.
Generell gilt: Nicht zu jeder der fast 800 Personen liegen Informationen zu allen Aspekten vor, selbst wenn nicht nur die Fallzahlen, sondern auch die Infodichte zugenommen hat. So gibt es etwa nur von zwei Dritteln polizeiliche Vorkenntnisse (s. S. 18). Je ein Viertel dieser Personen (26 %) sind mit Gewaltdelikten „vorbelastet“. Das heißt aber eben nicht automatisch, dass ein Viertel ALLER Ausreisenden Gewalttäter waren bzw. sind. Nun liegt diese allerdings nahe – schließlich stammen die Angaben von den entsprechenden Behörden. Doch bei anderen Merkmalen kann und darf nicht so einfach auf die Gesamtzahl geschlossen werden.
Aufgrund dieser und weiterer, unten näher ausgeführter Bedingungen entlarvt denn auch diese Fortschreibung der „Radikalisierungsauswertung“ die Erzählung vom Dschihad-Reisenden, der zum Extremisten wird aufgrund sozialer und ökonomischer Ausgrenzung (oder eines entsprechenden „Versagens“ – als weniger freundliche Version dieses Deutungsmusters), zwar nicht als Mär. Sie liefert aber auch keine sonderliche Grundlage, die die hohe Präsenz eines solchen erklärenden (und bisweilen entschuldigenden) Narrativs rechtfertigen würde.
Unter dem Punkt 3.4 („Schule, Ausbildung, Studium und Beruf“) erfahren wir nämlich zunächst, dass lediglich zu 289 der Ausreisenden Informationen über ihren höchsten Hochschulabschluss vorliegen. Das sind ca. 37 % aller bekannten Fälle.
Von diesem 289 Personen hatten dabei (s. S. 16):
36 % das Abitur
23 % mittlere Reife (Realschulabschluss)
27 % Haupt- oder Volkshochschulabschluss.
Vergleicht man gewagt diese Zahlen mit denen des Statistischen Bundesamtes, kann man also zur (freilich ebenfalls überzogenen oder gar haltlosen) Aussage kommen, dass diejenigen, die sich dem „Islamischen Staat“ anschließen, die Schnitt eher Bessergebildete sind.
Das ist wie gesagt ziemlich fragwürdig, ebenso aber (zumindest auf Basis der „Analyse der Radikalisierungshintergründe- u. Wege“) die Behauptung auf dieser Datengrundlage, der IS und andere Gruppen in Syrien und im Irak würden nur oder vor allem Bildungsverlierer anziehen.
Ähnlich verhält es sich mit Blick auf Studium und Ausbildung. Hier sind die Zahlen teils noch a) weniger belastbar und b) ebenfalls nicht für die „Loser“-Erklärung tauglich.
Informationen zur Ausbildung liegen zu 116 Personen vor (also nur knapp 15 % aller erfassten Personen), und von diesen haben 42 % eine Ausbildung abgeschlossen und 26 % eine vor der Reise begonnen. Nur ein Drittel (32 %) hat die Ausbildung abgebrochen – vermutlich ist bei so manchem davon eben die Ausreise bzw. die Radikalisierung der Grund dafür (und nicht die Folge).
Was auch nicht ins Bild des "Abgehängten" passt: Von 94 Personen ist bekannt (was also nicht heißt, dass es nicht doch mehr wären), dass sie vor der Reise ein Studium aufgenommen haben, 10 % davon (also 9,4 Personen?) haben es sogar abgeschlossen, 63 % kurz vor der Reise damit begonnen, 28 % abgebrochen (vermutlich auch wieder hauptsächlich wegen der Ausreise?).
Zu 111 Personen liegen Erkenntnisse vor, dass sie berufstätig waren, von 166 ist bekannt, dass sie arbeitslos waren.
Weil die Darlegungen in der Untersuchung unübersichtlich geraten mit den unterschiedlichen Grundgesamtheiten, auf die sich die Prozentwerte beziehen, hier übersichtlich (nochmals: soweit bekannt! Oder aber: „mindestens“):
arbeitslos: 166 Personen (= 21,2 % aller Erfassten)
berufstätig: 111 Personen (= 14,2 % aller Erfassten)
Schüler (zur Zeit der Ausreise): 74 Personen (= 9,4 % aller Erfassten)
(ehem.) studierend / studiert: 99 Personen (= 13 % aller Erfassten)
Und statt: „Zwar Drittel aller Ausreisenden waren polizeibekannt“ kann es ebenso berechtigt heißen: „Zwei Drittel aller Ausreisenden waren in einer Berufsausbildung oder haben diese sogar abgeschlossen“. Ca. 60 Personen waren an einer Hochschule eingeschrieben (63 % der 94 Personen). Mit den 74 Schülern und den 30 Azubis lässt sich sagen, dass fast ebensoviele (formal) Arbeitslose nach Syrien und in den Irak ausgereist sind wie Menschen, die sich (formal) in einer schulischen, beruflichen oder akademischen Ausbildung befanden. Nochmals: Jedenfalls soweit dazu natürlich Zahlen überhaupt vorliegen.
Übrigens: 57 der Ausgereisten waren minderjährig (7 %).
Kommen wir zum Punkt der Radikalisierungsfaktoren und dabei speziell dem Internet. Hier liegen Informationen zu 572 Personen vor. Die Verfasser sind sehr vorsichtig bzw. relativierend in ihren Aussagen. Es ist die Rede von „Hinweisen“ auf Faktoren, die „mutmaßlich“ zu Beginn der Radikalisierung „relevant“ sind (S. 20). Dabei erfolgt keine Gewichtung, was bei Querlesen schnell zu einer Fehldeutung führen kann. Folgende Radikalisierungsfaktoren mit Prozentzahlen werden nämlich genannt:
An erster Stelle stehen Freunde (54 %), (einschlägige) Moscheen (48%), dann schon das Internet (44 %). Es folgen: sog. Islamseminare (27 %), Koran-Verteilungsaktionen wie die „Lies!“-Einsätze (24%), die Familie (21 %), sog. Benefiz-Veranstaltungen (6 %), Schulkontakte (3 %) und Kontakte im Gefängnis (2 %).
Diese Prozentangaben bedeuten nun nicht, dass „Freunde“ für 54 % der Radikalisierung verantwortlich seien o.Ä. Es bedeutet "nur", dass bei 54 % der 572 Fälle „Freunde“ ein „relevanter“ Radikalisierungsfaktor war. Gewichtungen bzw. Aussagen über die (anteilige) Relevanz der Faktoren im Radikalisierungsprozess sind also nicht gegeben – und darüber hinaus bleibt offen, wie „Relevanz“ hier definiert wurde, ob dafür überhaupt Kriterien formuliert sind und inwiefern zum Tragen kamen.
Unabhängig davon sind die Zahlen interessant, zumal wenn man davon ausgeht, dass es eine große Schnittmenge gibt zwischen einerseits „Freunden“ und andererseits „Koranverteilungsaktionen“, „Islamseminaren“ oder „Moscheen“ (die ich schließlich alle mit Freunden besuchen kann).
Teilt man zwischen Off- und Online-Faktoren auf, ergibt sich auf den flüchtigen Blick ein enormer Stellen- (oder zumindest: Zahlen-) Wert für das Internet. Hier die direkte Real-World-Erfahrung und Interaktion, dort die Digitale Welt, die fast in der Hälfte der bekannten Fälle eine bedeutende Rolle spielte. Tatsächlich heißt es gar: „Bei 17 Prozent dieser Gruppe [= die 249 Personen, bei denen das Internet eben relevanter Faktor war; B.Z.] ist ausschließlich das Internet als entscheidender Faktor bei Radikalisierungsbeginn bekannt geworden“ (S. 22). Das ist beachtlich.
Doch zum einen ist nicht klar, wie relevant das Internet ist (im Verhältnis zu den „Offline“-Erlebnissen und Interaktionen), zum anderen, was mit „Internet“ überhaupt gemeint ist. Zumindest werden hier verschiedene Dienste, Angebote, Funktionen und Nutzungsweisen auf problematische Weise vermengt und unter einen Begriff gezwängt, der nicht erst, aber spätestens seit dem Aufkommen des Sozialen Medien für solche Analysezwecke nicht mehr sonderlich taugt.
Während denn auch kleinteilig zwischen „Islamseminaren“, „Moscheen“, „Benefiz-Veranstaltungen“ und „Koranverteilungsaktionen“ etc. differenziert wird, wäre es mindestens ebenso sinnig (und ebenso politisch), auch auf der Seite des „Internets“ zu trennen: Einerseits die der Nutzung von E-Mails und Chat-Foren, von Skype, Facebook und Twitter als Techniken und Räume des kommunikativen Austauschs, der Selbstpräsentation und der Kontaktanbahnung einerseits. Und andererseits der Gebrauch des Netzes als Informationsquelle für Texte und Videos.
Natürlich sind die Grenzen fließend: das Social Web teilt sich vom Microblogging und -messenger bis zum Videodienst eine Menge überlappender, artverwandter und ergänzender Features, die zudem in unterschiedlicher Art und Bedeutung je unterschiedlich integriert, aufeinander abgestimmt und miteinander verschränkt sind. Wer will entscheiden, ob Facebook primär als Infoquelle oder als Medium der direkten Austauschs gilt, als Plattform oder Kanal?
Aber es ist eben doch ein Unterschied, ob bei Spiegel-Online oder einschlägigen, spezielleren Websites die neuesten Missetaten des Assad-Regimes rezipiert werden oder ob mittels Telegram und WhatsApp persönlich kontaktiert, später die Hidschra initiiert, geplant und organisiert wird. Entsprechend ist die einfache Abgrenzung zu „Freunden“ und „Islamseminar“ hinfällig, wenn ich mich mit meinen Freunden über das „Internet“ austausche oder das „Islamseminar“ in Online-Foren, in Videos und Kommentarspalten von YouTube stattfinden. Hier ist das „Internet“ virtuelles, zumindest digitales Pendant oder Verlängerung der „analogen“, der „Kohlenstoff“-Räume, dort eine ganz eigene Welt oder zumindest ein ganz eigenes Angebot. Dazwischen ist es oder kann es sein: ein Ersatz.
Dies impliziert der Befund der vorgelegten Analyse: die „Abnahme“ der Bedeutung des Internets im Radikalisierungsverlauf (auch wenn es zu diskutieren gälte, inwiefern hier konkret ein Bedeutungsrückgang zu konzipieren ist). „Offenbar ist in den meisten Fällen ein direkter persönlicher Austausch mit Gleichgesinnten für die weitere Radikalisierung bedeutsamer als der Konsum von extremistischer Internetpropaganda oder digitaler Kommunikation“ (S. 22).
Kurzum: Das „Internet“ ist vor allem in Sachen Radikalisierungsauftakt oder -einstieg ein Ort oder Werkzeug, den es genauer und differenzierter im Blick zu behalten lohnt.
Dass nun die "Analyse der Radikalisierungshintergründe und -verläufe" auch in ihrer Fortschreibung das nicht leisten kann, ist verständlich, weil schlicht eine solche genauere Erfassung bei den Behörden wohl nicht erfolgt und somit nicht weitergeleitet werden kann. Die "Internet"-Pauschalisierung, die sich auch in jüngerer Medienforschung noch findet und vielleicht akzeptabel (siehe etwa HIER, wo eingangs allerdings gar von der "Nutzung von Onlinemedien wie Computer, Internet, Handy und Social Media" die Rede ist), kann und muss aber gerade im Bereich der Radikalisierungsuntersuchung überwunden werden, insbesondere was statistische Daten anbelangt.
Bis dahin wäre allerdings schon viel gewonnen, wenn mit den bestehenden Informationen vernünftig und besonnen umgegangen wird.
zyw
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