Wer bin ich, was hab ich getan?
Das ehemalige RAF-Mitglied der dritten Generation Brigitte Hogefeld kommt nach 18 Jahren frei - das Frankfurter Oberlandesgericht hat den Rest ihrer Strafe auf Bewährung ausgesetzt. Verurteilt ist Hogefeld wegen mehrfachen Mordes. (Wieder) "passend" dazu ist Connie Walthers bemerkenswert merkwürdiger Film SCHATTENWELT, der nicht unwesentlich durch die Debatte um Christian Klars Freilassung bestimmt ist bzw. in deren Schatten stand. Auch dass Peter-Jürgen Book beim Drehbuch mithalf, sorgte für Wirbel:
"Die Idee zu «Schattenwelt» stammt von Uli Herrmann, Redaktionsleiter des SWR-«Tatorts», der auch das Drehbuch verfasst hat. Er habe Boock zufällig kurz nach dessen Entlassung 1998 in Freiburg kennengelernt, er sei damals ein «wichtiger Stein» im Mosaik der Recherche gewesen, sagte Herrmann.
Boock habe «ein Honorar im Rahmen der branchenüblichen Vergütung» erhalten, betonten die Produktionsfirmen des Low-Budget-Films. Seit 1999 sei Boock nicht mehr in das Projekt eingebunden gewesen und habe auch nicht zum Drehbuch Stellung genommen. Der Stoff sei zudem zu einer Zeit entstanden, als sich noch kaum jemand für das Thema RAF interessiert habe."
So jedenfalls steht es auf kino-news zu lesen. Dazu auch die taz, die unter anderem darauf hinwies, dass die Produktions-PR Boock werbewirksam als Koautor nannte. Freilich:
"Der moralische Eifer traf 'Schattenwelt', obwohl Boocks Vertrag mit dem Spiegel und Eichingers Constantin-Film umstrittener sein müssten. FDP-Parlamentarier Rainer Brüderle spitzte den Vorwurf in der Bild-Zeitung zu, der 'Schauschämer' Boock habe als Drehbuchautor öffentliche Fördergelder erhalten. Solche Art von Filmförderung sei eine Verhöhnung der Opfer", konstatierte Claudia Lenssen in der taz.
SCHATTENWELT handelt von dem Ex-Terroristen Widmer (Ulrich Noethen), der nach 22 Jahren der Haft wieder auf freiem Fuss sich in der Neubausiedlung, in die er einquartiert wird ebensowenig einfindet wie in das Leben, in das er geworfen wird - nicht nur das in Freiheit, sondern überhaupt: das Leben.
Zur Nachbarin hat er die ätherische und zugleich leicht ruppige Valerie Matos (Franziska Petri), die jedoch nicht nur als Mutter ein Problem hat, sondern ein dunkles Geheimnis: Bei der missglückten Entführung, für die Widmer verurteilt wurde, ist auch Valeries Vater umgekommen - ein Gärtner, ein Kollateralschaden, zu falschen Zeit am falschen Ort. Valerie, nach aufwendiger, etwas unplausibler Mühe, an Widmer heranzukommen, will jetzt Rache, vor allem aber wissen, wie das damals war - was allerdings nun auch bedeutet: Wer dereinst wirklich den Finger am Abzug hatte. Und Widmer schweigt. So machen sich die beiden Aussenseiter, Täter und Opfer, gemeinsam auf den Weg in die Vergangenheit, in und aus der es eigentlich nichts mehr zu retten gibt. Ein Roadmovie wird aus SCHATTENWELT.
SCHATTENWELT ist ein eigenwilliger Film, nicht (nur) wegen seiner ästhetischen und athmosphärischen Strenge, sondern weil er die Aufarbeitung der politischen Gewalt und ihrer Folgen nicht betreibt, sondern selbst thematisiert. Er ist ein Gegenstück zu DER BAADER MEINHOF KOMPLEX, in dem in und zwischen den Fragmenten schon alles klar und entsprechend nichts mehr zu sagen ist. Wo BMK buntes naturlistisches Historien- (oder Museums-)Kino bietet, entfremdet SCHATTENLAND in böser ironische Umwendung des Titels die Gegenwart, indem die Kamera alles ausbleicht, stumpf und überhell werden lässt. Schatten gibt es nicht mehr oder aber: Alles ist im Zwielicht, und Walther geht mit einem Aufheller daran, dreht die Belichtung auf. Ein penetrantes, quälendes Nicht-mehr-Verstecken können ist die Folge, die Kamera als Selbstbeobachtungsstimmung. Dabei geht SCHATTENLAND mit seinem mürrischen, mauligen, gar nicht - zumindest nicht vom Auftreten her - schuldensleidendem Widmer dahin wo's weh tut, an die Momente, von den wir nur quälende Ungewissheit haben. Oder genauer: an die bohrenden, entzündlichen Wunden, die die Splitter dieser Momente verursachen.
Wie bei so vielen Verbrechen der RAF, der zweiten, der dritten Generation wissen wir nicht, wer dabei war oder wer was wann getan hat. Das verhindert die Aufarbeitung, die Konfrontation, doch nicht nur für die Opfer, die Hinterbliebenen, sondern auch die der Täter, die gerade so schweigen, sich so nicht ihren Taten und ihrer Verantwortung stellen (und verweigern), wie sie das wenig anders den "Nazi-Eltern" dereinst vorgeworfen haben.
Wenn Valerie denn auch die Waffe zückt, erinnert das von Ferne an die Provokationsseelenzwänge jener Linksradikalen, denen es nicht (nur) darum ging, dem Faschistenstaat BRD die demokratische Maske herunterzureißen, sondern endlich mal eine Stellungnahme, eine Äußerung, ein Bekenntnis überhaupt zu provozieren. Irgendweine nicht nur nur "konterrevolutionäre" Reaktion.
SCHATTENWELT ritzt und reißt auf diese Weise unleidliche Themen an, auch wenn es sie nicht ausformuliert. Dazu gehört auch, inwiefern beispielsweise sich Valerie hinter dem Tod ihres Vaters und Widmers Schuld selbst nur vesteckt. Eine Ausrede für ihr Versagen als Mutter und im Leben. Eben ihre Verantwortung. So kann SCHATTENWELT manchen typischen Rollenmustern und Figurentypen nicht entkommen. Uwe Kockisch und Tatja Seibt sind als Nebencharaktere mit ihren Beziehungen vielleicht nötig, aber störend (sie bringen zu viel Bodenhaftung und ein maues Stückcken "Genre" hinein, allein über ihre Berufs- und Draamturgiefunktionen). Doch hinterfragt dieser Film, der weit interessanter gerät als andere Aufarbeitungs- und Bewältigungsterrorismusdramen (z. B. ES KOMMT DER TAG) und der sich mit einem spröden Ende elegant aus der Affäre zieht, aus sich selbst heraus gegen die Standards und Schemata, die man gemeinhin für die Protagonisten des Terrorismus bereithällt. Nicht nur in der Fiktion, die hier weder Erlösungstragödie noch Rachethriller ist, und allein schon, weil die Figuren als Charaktere in SCHATTENWELT damit und ohne fadenscheinige Chance so sehr zu kämpfen haben.
Einige Male erinnert der großartig besetzte, herrische wie hagere Ulrich Noethen mit seiner schneidigen, patzigen und doch dünnen Stimme an den alternden Showmaster Jimmy Gator (Philip Baker Hall) gegen Ende von Paul Thomas Andersons MAGNOLIA (USA 1999): Mit dem Vorwurf (oder zumindest dem Verdacht) konfrontiert, dereinst seine Tochter missbraucht zu haben, zuckt Gator verwirrt, beschämt, nachdenkend die Achseln: Er weiß es nicht mehr, er kann sich nicht erinnern. Nicht (nur) Selbstschutz steckt dahinter, nicht bloß ein Nicht-Wissen-Wollen, sondern ein echtes, ein stirnerunzelndes verwirrtes Entsetzen, das aus der Begegnung mit einer gewissen unheimlichen Eigenentfremdung einhergeht. War ich das? Kann das ich gewesen sein? Das getan haben?
Natürlich sind Widmer in SCHATTENLAND wie andere reale Terroristen, jene, die die Polizisten Schmitt, Schoner oder Sippel, Brändle, Ulmer Pieler, die Soldaten Blomquist und Pimental, von Mirbach, Schleyer, Ponto auf dem Gewissen haben, keine Kinderschänder - sie haben Kindern die Väter genommen. Was freilich auch jemand, der seine Tochter sexuell missbraucht, in gewisser Weise tut.
Aber die Rechtfertigung der Ideologie, der gute Wille irgendwo hinter der Tat steht immer auch mit im Raum. Nicht darüber zu reden, als damaliger Politaktivist, als Terrorist, als vor allem heute: Mörder, das ist der Versuch, Konsistenz herzustellen, das "Ich" von damals mit dem heutigen, einem neuen, nicht nur in Einklang zu bringen, sondern sich auch zu erhalten.
SCHATTENWELT ist dementsprechend so spannend, weil er nicht den reuigen Sünder zeigt und auch nicht den Sturen, den Unverbesserlichen (für den des keine "Entwicklung" und folglich kein neues "Ich" gibt), sondern jemanden in einer fragilen Phase irgendwo dazwischen. Noethens Widmer befindet sich in einem Übergangsstadium, in dem man sich selbst schnell einkerkern kann - ein permanenter Geisterzustand, ein Nicht-Leben wie in einer Parallel- oder eben, nun ja: Schattenwelt.
SCHATTENWELT
Regie: Connie Walther
Drehbuch: Ulli Herrmann; Connie Walther
Drehbuch-Mitarbeit: Clementina Hegewisch; Reinhild Gräber
Vorlage: Peter-Jürgen Boock
Kamera: Birgit Gudjonsdottir
Schnitt: Karen Lönneker
Musik: Rainer Oleak
Produzenten: Clementina Hegewisch; Michael Jungfleisch
Co-Produzenten: Connie Walther; Ulli Herrmann
Redaktion: Bettina Reitz (BR); Bettina Ricklefs (BR); Andreas Schreitmüller (Arte); Jochen Kölsch (BR / Arte); Monika Lobkowicz (BR / Arte)
Darsteller
Ulrich Noethen (Volker Widmer), Franziska Petri (Valerie Matos), Uwe Kockisch (Decker), Tatja Seibt (Ellen Weber), Eva Mattes (Marita), Christoph Bach (Samy), Mehdi Nebbou (Talat), Gottfried Breitfuss (Lewinsky), Rino Zepf (Robbi), Andrea Löwl (Robbis Mutter), Udo Lange (Robbis Vater)
Die Website zum Film finden Sie HIER.
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Bernd Zywietz
16.06.2011
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