08.10.2011
RACHIDA
C/O Berlin, International Forum for Visual Dialogues präsentierte begleitend zur Fotoausstellung „unheimlich vertraut. Bilder vom Terror“ und in Kooperation mit dem Babylon Kino eine Filmreihe zum Thema Terror und Terrorismus. Konzipiert hat diese die Filmjournalistin und Kunsthistorikerin Sonja M. Schulz. Am 8. Oktober wurde dort der algerisch-französische Film RACHIDA (2002) von Yamina Bachir-Chouikh gezeigt. Von C/O Berlin eingeladen, hatte ich die Ehre, dazu einen kleinen Einführungsvortrag zu halten. Hier nun der ausführliche und leicht umstrukturierte Text dazu.
*********************
I. Einleitung
Eigentlich sollte am Mittwoch, den 12. Oktober, Wang Bings Film THE DITCH (DAS ERDLOCH/JIABIANGOU) von 2010 über die „Umerziehungslager“ unter Mao die Filmreihe „unheimlich vertraut“ abschließen. Weil dieser Termin jedoch entfallen musste, ergab sich zufällig eine originelle Symmetrie: Am 11. September startete die Reihe mit Gillo Pontecorvos wegweisendem LA BATTAGLIA DI ALGERI (SCHLACHT UM ALGIER) aus dem Jahr. Mit einem weiteren Film zur Gewalt in Algerien schloss sie nun am 8. Oktober – mit Yamina Bachir-Chouikhs RACHIDA von 2002.
Es ist aufschlussreich, stellt man beide Filme einander gegenüber – als zwei Filme zu unterschiedlichen Formen von Terrorismus, in puncto Frauenrolle, aber auch als zwei Werke an unterschiedlichen Punkten der historischen, politischen und gesellschaftlichen Entwicklung Algeriens. Und nicht zuletzt sind es zwei Filme, die aus einer gegensätzlichen Position heraus und mit höchst unterschiedlichen Perspektiven und Anliegen entstanden.
LA BATTAGLIA DI ALGERI zeigt den Untergrundkampf der FLN (Front de Libération Nationale) in der algerischen Hauptstadt gegen die französische Kolonial- und Militärherrschaft. Von 1954 bis 1962 dauerte der Algerienkrieg, an dessen Ende Frankreich den Maghreb-Staat unter großen Schmerzen nach 132 Jahren notgedrungen in die Unabhängigkeit entließ. Pontecorvos Film entstand auf Betreiben der FLN nach diesem Sieg, ist vor Ort gedreht, mit historischen Kämpfern, die sich – wie Saadi Yacef – praktisch selbst spielen. In und mit LA BATTAGLIA DI ALGERI feiern sich die Gewinner des Freiheitskampfs selbst, es ist ein filmgewordener Gründungs- und Heldenmythos, ein Meilenstein der Kinogeschichte mit seinen dynamischen Schwarzweißaufnahmen im Stil des Neorealismus, aber auch ein Lehrbeispiel in Sachen urbanem Untergrundkampf: Andreas Baader und der Auftragsterrorist „Carlos, der Schakal“ sollen ihn sich, so wird kolportiert, angesehen haben, und das US-Militär nutzte ihn als Anschauungsmaterial, um sich auf die Invasion im Irak vorzubereiten.
RACHIDA ist da ganz (etwas) ander(e)s und steht doch in Beziehung zu LA BATTAGLIA DI ALGERI, nicht zuletzt, weil der RACHIDA sich mit dem unruhigen Land befasst, das Jahrzehnte nach der Unabhängigkeit aus Algerien geworden ist.
Ein kurzer Blick in die Geschichte: Nach der Unabhängigkeit 1962 kam es zu Machtkämpfen um Personalien und die politische Ausrichtung innerhalb der FLN; Präsident Ahmed Ben Bella, Gründer der FLN, wurde bei einem Putsch von Houari Boumedienne gestürzt. Dessen Nachfolger wurde 1978 Bendjedid Chadli, der angesichts der sozialen Aufstände als Reaktion auf eine daniederliegende Wirtschaft, auf Wohnungsnot und Arbeitslosigkeit in dem bis dahin sozialistisch orientierten Land Ende der 1980er Demokratisierungsmaßnahmen einläutete. Eine Verfassung trat in Kraft und freie Parlamentswahlen wurden zugelassen. Letztere gewannen 1991 im ersten Durchgang die Islamische Heilspartei (FIS), woraufhin das Militär einschritt, den Notstand ausrief und die FIS verbot. Es folgte ein Bürgerkrieg zwischen Islamisten, vor allem jenen der radikalen, kompromisslosen Groupe Islamique Armé (GIA), auf der einen und der algerischen Armee auf der anderen Seite. In manchen Regionen Algeriens dauert der blutige Kampf bis heute an. Legitimes Ziel für einige der Extremisten ist dabei jeder, der mit Repräsentanten der öffentlichen Herrschaft unter Präsident Abelaziz Bouteflika „kollaboriert“ oder sie unterstützt. Dabei wurde der algerischen Gesellschaft quasi der Krieg erklärt, unter Berufung auf den Apostasie-Vorwurf, also dem Abfallen vom wahren Weg des Islams, so dass das Töten von Zivilisten als eine Art Reinigung der Gesellschaft gerechtfertigt wird. Entsprechend ist es in dem Konflikt zu einer Vielzahl von Morden und grausamen Massakern an der Zivil- und vor allem Landesbevölkerung gekommen, z.B. jenem in Benthalha im September 1997 mit je nach Quelle über 200 Toten. Zum nationalen Kampf gesellt sich neuerdings auch der internationale dschihadistische, zumindest formal: So benannte sich die Splitterpartei Salafisten-Gruppe für Predigt und Kampf (Groupe Salafiste pour la Prédication et le Combat – GSPC), 1998 gegründet, im Jahr 2005 in „Organisation al-Qaida des Islamischen Maghreb“ um und versucht so, den Konflikt mit der algerischen Regierung in einen größeren Kontext zu stellen. Doch auch die Regierungsparteien geraten in die Kritik. So kommt es immer wieder zu Anschuldigungen, die GIA sei vom Militär unterwandert und gelenkt. Und insbesondere die Gräueltaten legitimieren die Regierung und lässt sie im Ausland als notwendiger Garant der Stabilität im Land erscheinen...
II. RACHIDA
Rachida (Ibtissem Djouadi), die titelgebende junge Frau, lebt mit ihrer Mutter Aïcha (Bahia Rachedi) zusammen und arbeitet als Lehrerin in Algier. Zu Beginn des Films sehen wir, wie sie Lippenstift aufträgt, für die Klassenfotos, die an diesem Tage geschossen werden. Rachida trägt moderne westliche Kleidung, Hosen oder knielange Röcke, einen Blazer, das braune Haar offen – keinen hijab. Ihre Kollegin, mit Kopftuch, will nicht mit aufs Foto: Sie wolle deswegen ihre Kinder nicht zur Waisen machen – und sei sie froh, dass ihr Mann sie überhaupt arbeiten lasse.
Kein Problem, ihren Platz im Bild nimmt die Schulleiterin Yasmina ein; und als ihr Rachida die Musik aus ihrem Walkman vorspielt, lacht die eben noch besorgte Erzieherin plötzlich ausgelassen auf. Man hat sich eben arrangiert in Algier, mit den religiös-kulturellen Einschränkungen wie mit den Versorgungsengpässen: Ein Schuhverkäufer preist im Lehrerzimmer seine begehrte Ware an, ehe Yasmina in davonjagt, und daheim warten Rachida und ihre Mutter, bis das Leitungswasser wieder fließt – in der Küche stehen die Plastikflaschen für den nächsten Tag schon bereit. Es ist ein lebendiges Leben, das bei aller Not stattfindet. Auf dem Dach hält ein Nachbar mit einem Stein in der Hand Wache. Gegen Einbrecher oder Radikale? Beides?
Doch die Gefahr ist tatsächlich schon nahe, überall: Rachida wird auf dem Weg von der Schule nach Hause beobachtet, von jungen Männern verfolgt, keine langbärtigen Finsterlinge, sondern hittistes – „unemployed, angry, and idle male members of Algeria’s extremely young population“ (Chakravarty Box 2011, S. 8, Fn. 3). Einer baut eine Bombe, verstaut sie in eine Tasche. Am nächsten morgen fangen sie Rachida ab, umringen sie. Sie soll die Tasche in die Schule mitnehmen. Mit weitaufgerissenen Augen starrt sie die jungen Männer an. Einer davon, so wird später mehrfach erwähnt, ist ein ehemaliger Schüler. Die Männer verfolgen sie in eine Seitengasse, es ist taghell, eine Frau schaut zu. Rachida weigert sich erneut. Die Kinder. Der Älteste zieht langsam eine Pistole aus dem Hosenbund. Rachida schüttelt entsetzt den Kopf. Ein Schuss. Sie stürzt zu Boden. Die Männer stellen die Tasche neben der bewusstlosen Lehrerin und ihrem Walkman ab, wir sehen ihre Füße ohne Eile aus dem Bild gehen.
Ein Bombenkommando entschärft die Bombe, Aïcha eilt herbei, wird zurückgedrängt. Im Krankenhaus dann wartet sie auf dem Flur. Ein Arzt schickt die Mutter mit kühler Autorität im Vorbeigehen nach Hause. Natürlich bleibt sie. In ihrem haïk, dem Ganzkörpertuch, setzt sie sich im Flur auf den Boden und wirkt wie ein archaisches Gespenst in diesem modernen Klinikambiente. Rachidas Verlobter Tahar (Azzedine Bougherra) kommt – mehr verärgert als besorgt. Er hat sowas ja kommen sehen.
Rachida überlebt den Bauchschuss, doch die junge, selbstbewusste Frau ist traumatisiert und grimmig zugleich. Als die Mutter die Fensterläden in ihrem Zimmer öffnet, um das gleißende nordafrikanische Licht und das Leben wieder herein- und zuzulassen, springt sie ärgerlich auf, knall sie wieder zu.
Gemeinsam mit Aïcha verlässt Rachida die Stadt. Yasmina verfügt über ein Haus in einem Dorf auf dem dörren, staubigen Land, dort kommen die Frauen unter. Auch eine Anstellung in der örtlichen Schule besorgt Yasmina Rachida. Doch Gewalt gibt es aber auch hier, allerdings offener, urtümlicher und – man möchte fast sagen: – banaler.
Wenn man Rachida als den Figurentypus der Educator-Heroine herunterbricht (s. Chakravarty-Box 2011), sind die Gewalttäter, die das Dorf unregelmäßig heimsuchen, wie Bullies auf eine Schulhof oder Banditen in einem Western, gegen das Hollywood die Glorreichen Sieben anheuern würde. Am hellichten Tag kommen sie zu dritt, finster dreinblickend, mit Sturmgewehren und Pistolen, gewöhnlicher gekleidet in Jeans und Hemd oder höchstens mit Weste und Stiefeln leicht milizionärisch. Schnellen Schritts kommen sie Straße entlang; die Kinder werden ihnen schnell aus dem Weg gezogen. Im Laden kassieren sie ihren Teil, holen sich Lebensmittel, im Café, bei anderer Gelegenheit, fegen sie die Tische leer, fuchteln mit den Waffen, als ein älterer Mann leise muckst, und kassieren das Schutzgeld.
Später wird der alte Mann tot sein.
Wie in Algier, stehen auch hier nächtens Wachen auf den Flachdächern. Die Jungen sammeln Patronenhülsen, fachsimpeln gar über die Schüsse in der Ferne – um welche Waffe es sich da handeln mag.
RACHIDA erzählt in fast nüchternem Ton und mit mehreren Figuren von einem belagerten Dasein, mit dem man sich auch hier mal mehr, mal weniger arrangiert hat. Hinzukommt eine grundlegende Art Druck für die Frauen, die Regeln und Normen des traditionellen Patriarchats. Auch davon erzählt RACHIDA, und davon, dass beides nicht dasselbe ist.
Die einzelnen Figuren und ihre jeweiligen Geschichten ergeben zusammen jedoch kein Ensemblefilm mit verwobenen Stories und einer in sich distinkten Polyperspektive. RACHIDA ist nicht Robert Altmans SHORT CUTS (1993) oder, in Sachen Terrorismus, der indische MUMBAI MERI JAAN (2008) von Nishikant Kamat. Der Blick in des und des Film(s) RACHIDA ist eher der eines Flaneurs und neutralen Beobachters, der Film durch das Dorf schreitet, sich mal hier, mal da Figuren heraus pickt und lose, unfertige wiewohl in sich komponierte Splitter und Miniaturen der Dorfgeschichte, ausgearbeitet zwar, bedeutungshaft und poetisch konstruiert, trotzdem ausschnitthaft und Teil eines Ganzen. Sachlich ist dieses Kamera-Auge, manchmal auch holprig, aber nie uninteressiert, herzlos oder kühl.
Da ist zum Beispiel der junge Mann, der ein Mädchen – Hadjar – liebt. Ihrem Vater passt das Interesse des Jungen gar nicht, die Tochter ist schon vergeben, und trotzdem lässt sich der Liebende nicht davon abbringen, seine Herzensdame täglich aus der örtlichen Telefonzelle anzurufen, mag sich der Papa noch so aufregen.
Eine andere, tragische Geschichte: die von Zohra (Rachida Messaoui En). Von den Terroristen entführt und vergewaltigt, ist sie nun schwanger zurückgekehrt – und wird als eine, die ihrer Familie Schande gebracht hat, vom Vater verstoßen. Die Frauen der Familie und des Dorfes lassen sie gleichwohl nicht fallen. Mit ihnen begibt sie sich später, vor der Hadjars Hochzeit, traditionell ins Badehaus, wo die Frauen ihren Freiraum haben, offen über ihre Männer lästern können – wohin sich Rachida aber nicht traut: Als Ledige befürchtet sie, ihre Schusswunde, könne für einen Kaiserschnitt gehalten werden. Und auch Zohra verfolgt die Wertregeln bis hinein ins Bad: Wie besessen schrubbt sie ihren blessierten, nun auch von ihr verachteten Körper, dass es einem beim Zuschauen schmerzt. Aïcha redet ihr gut zu, vergebens.
Schließlich, während der Hochzeitsfeier, überfallen die Banditen-Terroristen das Dorf, verwüsten es. Der Film, wie auch sonst fast aufreizend unspektakulär, zeigt das nicht, nur die Folgen am Morgen danach. Die Braut Hadjar haben sie mitgenommen, und der junge Mann, der sie einstverehrte und nicht haben konnte, sitzt am nun in den Trümmern der Telefonzelle schnippt seine Münzen vor sich in den Staub. Und hier findet sich eine zutiefst unheimliche Szene. Wie eine Geistergestalt geht Zohra, die Schwangere, Verstoßene, durch den verheerten Ort, der weniger erscheint, als haben einige Bewaffnete gewütet, denn ein kleiner Krieg. Leichen liegen da, verdeckt unter Tüchern (auch ein Kind), eine Bestattung. Und Zohra, als habe das Schicksal sie gerecht, zeigt für einen Augenblick ein kaltes kleines Lächeln, das einen frösteln lässt.
Rachida aber, die sich zuvor noch mit ihrer Raï-Musik die Furcht aus dem Leib zu tanzen versuchte wie Zohra sich die Schande grob abzuwaschen versuchte, die versteckt anhören muss, dass die lüsterne Verbrecherbande nach ihr Ausschau hält, sie ergibt sich diesmal nicht der Furcht, führt die Kinder zum Unterricht, schreibt an die Tafel, wendet sich um und blickt fest und lange in der letzten Einstellung in die Kamera und ins Publikum.
III. Zur Perspektive in RACHIDA
RACHIDA ist der erste und bislang einzige Spielfilm der 1954 geborenen Regisseurin Yamina Bachir-Chouikh. Zuvor arbeitete sie als Cutterin, dreht danach den Dokumentarfilm HIER… AUJOURD’HUI ET DEMAIN (2010); verheiratet ist sie mit dem algerischen Regisseur Mohamed Chouikh (EL KALAA – LA CITADELLE [1988]). Zu RACHIDA, der im Dezember 2003 von der Evangelischen Filmarbeit als „Film des Monats“ ausgezeichnet wurde und unter anderem den Satyajit Ray Award des London Film Festival 2002 und den Friedensfilmpreis Osnabrück 2003 gewann, sagte sie:
„Ich wollte auf meine persönliche Art ein Zeugnis ablegen von der Situation in meinem Land. Denn es gibt so wenige Bilder. Und die Bilder, die es bereits über dieses Drama gab, die Bilder die es im Fernsehen zu sehen gibt, ärgerten mich, ja sie machten mich richtig wütend. Ich litt mit den Opfern und empörte mich gleichzeitig über die Art und Weise, wie mit ihnen umgegangen wird, mit jenen, die täglich umgebracht werden. Ich wollte von der Alltäglichkeit dessen erzählen, wie die Leute diese ständige Gewalt erfahren. Ich wollte diesen Menschen ein Gesicht geben“ (Bachir-Chouikh zit. n. Wolpert 2004).
Die Gesichter in RACHIDA kann man freilich schnell verwechseln; es fordert ein aufmerksames Sehen, um die Figuren in ihren Verhältnissen zuzuordnen. Das hängt auch zusammen mit der Kamera, die mehr dokumentiert als zeichnet. Diese (man kann angesichts ihres Gestus‘ und der Verbreitung fast sagen) Weltkinosprache ist nicht ohne Finesse oder Effizienz, aber an vordergründiger Eigenästhetik nicht interessiert. Und mehr noch dient sie nicht der und den einzelnen Figurendramen – diese selbst stehen in einem höheren Auftrag: dem, eine Stimmung einzufangen.
Der Film RACHIDA wirkt in seinem Duktus selbst im besten Sinne irritierend, da zugleich empört und gleichmütig in einem. Und so bedrückend die geschilderte Lage ist, so offen erscheinen die Räume und der Film mit seinen Sprüngen und fehlenden Expositionen selbst. Von dem Dorf, in das sich Rachida mit ihrer Mutter zurückzieht, bekommt man keinen topografischen Gesamteindruck. Einzelne verstreute Häuser, breite Wege und Straßen. Aber keine Totale auf das Ganze. Das Leben findet draußen statt, alles ist sonnenhell, in diesem algerischen Hinterland, in dem sich die Gangster-Terroristen in ihrer schrecklichen Natürlichkeit herumtreiben, in der sie kommen und gehen, sich mit dem Militär beharken oder sonst etwas anstellen, wenn sie aus dem horizontal organisierten Bild sind; was genau? – man weiß es nicht und erfährt es nicht. Sie sind einfach da.
Algier ist, so wie so, dieser dörflichen Gegend nicht fern, denn die Räume fließen in RACHIDA ineinander. Einmal fahren Rachida und ihre Mutter in die Großstadt. Unterwegs werden sie fast von den „Rebellen“ gestoppt; aus der Ferne dann sehen die Frauen, wie andere Wagen mit unglückseligen Insassen ihnen in die Falle gehen. In Algier verbringen sie anschließend mit Rachidas Verlobten einen Tag am Meer (an dem Privatstrand eines Hotels?), unbekümmert, in moderner Badekleidung (doch auch hier schwimmt eine Frau im Ganzkörpergewand), in einer Art Parallelwelt.
RACHIDA stört dahingehend unsere Sehgewohnheiten. Wir kennen den Kino-Terrorismus weitgehend als fremdartige, monströse Gewalt, die in den zivilen Alltag hereinbricht wie ein Wesen aus einem Horror- oder Science-Fiction-Film oder aber gebunden an die Heimstädten eines Krisengebiets oder sonstiger Einzelterrains, in dem sich jede Ordnung weitgehend aufgelöst hat, im Irak, in Afghanistan, auf dem Balkan. In RACHIDA ist die Terror-Gewalt auch schrecklich, aber ihrer Absolutheit beraubt. Damit sind auch die Menschen, die zwischen die Fronten der hier nicht näher behandelten permanenten Gefechts geraten, zwar Opfer der Willkür oder Spielball zwischen Repression und Gegenrepression, aber sie sind eben nicht immer und nicht ausschließlich das: Opfer.
Dieses „Nicht-nur“, das Verweigern der Reduktion der Gewalt auf Schockbilder, ohne jedoch Furcht und Schrecken zugleich aufheben zu wollen, ist ins ästhetische, erzählerische Prinzip des Films RACHIDA ganz tief eingeschrieben. Das angelegentliche Ungelenke wie das Elegante in ihrer merkwürdigen Eintracht lässt sich daraus erklären.
Denn manches ist betont, nahezu überdeutlich und gesucht wie beispielsweise die prononcierte frontale Darstellung des Fotokameraobjektivs in Großaufnahme, die beim Klassenfototermin auf die Schüler und die Lehrerin gerichtet ist wie eine Waffe (oder der berühmte male gaze). Ein ausliefernder, verdinglichender Blick, der im finalen entschiedenen Zurück- und Aus-dem-Film-Blicken Rachidas (s)einen Konterpart oder aber: Konkurrenten um die Sehhoheit findet (beide sind schließlich und in letzter Instanz auch auf uns, das Publikum, gerichtet).
Das ist cleveres visuelle Motiv, aber auch – wie der junge Mann in der zertrümmerten Telefonzelle gegen Ende des Films – ausgedacht oder sehr herausgegriffen und insofern ohne viel Feinheit, als der Film sich in seinem kühlen, effizienten Erzählen selbst nicht den Charakter für derartige sinnbildliche Betonungen zugesteht. So erscheint automatisch und zwangsläufig das dargestellte Kameraobjektiv ebenso wie Rachidas finaler Blick als zu lange ausgespielt, und man ist, unberechtigterweise oder angesichts der nur psychologischen Schwerfälligkeit, versucht zu denken: Yamina Bachir-Chouikh mit ihrer Erfahrung als Cutterin hätte es doch besser wissen müssen.
Anderes wiederum erscheint wunderbar unbewusst, en passant gefunden oder einfach von selbst vorhanden wie der immer wieder aufgegriffene Walkman mit seiner „funktionalen“ Bedeutung für die Figuren, die mit seine Symbolik in der Erzählung Hand in Hand geht.
Auch im Krankenhaus findet sich zwar die – hier kraftvoll sinnbildliche, entsprechend inszenierte –, jedoch eben auch wieder „hingesetzte“ oder „frontale“ Mutter Aïcha – daneben allerdings ebenfalls eine unscheinbare und umso mehr bemerkenswerte Einstellung, die sich ganz aus der Haltung des Films und der Kamera gegenüber dem (oder den) Gezeigten ergibt:
Die bewusstlose Rachida wird von Ärzten versorgt. Von beiden sehen wir jedoch nur Details; nicht das Wer, sondern das Was beansprucht die Aufmerksamkeit des Films in diesem Moment. Die Infusionsbeutel werden überprüft, das Schlauchventil geöffnet, der Sitz der Nadel in der Vene kontrolliert. Auf der anderen Seite, am anderen Arm, wird gerade die Blutdruckmanschette fertig angelegt … Die Kamera schwenkt dabei die einzelnen medizinischen „Stationen“ ab, „überquert“ dabei auch Rachidas Oberkörper – ohne aber ihr Gesicht auch nur zu streifen. Erst zuletzt, nachdem das Kontrollgerät eingeschaltet wurde, schwenkt die Kamera ein Stück nach rechts und fokussiert das horizontal „liegende“ Profil der „schlafenden“ jungen Frau.
Man kann diese Blickkonzentration auf unterschiedliche Weise lesen: Dass nach den jungen Terroristen und den Bombenentschärfern einmal mehr über den Körper der Frau von Männer qua deren herausgehobenen Status und ihrer Profession verfügt wird. Ein Körper, der missbraucht werden soll und attackiert wird, der gefährlich oder anfällig und kaputt erscheint (mit Zohra und ihrem Vater, die beide Zohras geschändeten, unreinen und damit nun fremden Körper abweisen, wird der Film diesen „Gedanken“ fortgeführt und ans Traditionelle und Archaische zurückbinden).
So einfach ist es aber dann doch nicht, denn für die Rachida professionell versorgenden Ärzte ist Rachida kein bloßes Ding (und ebenso wenig für die Kamera): Nachdem die Blutdruckmanschette angelegt ist, hebt einer der Ärzte Rachidas Hand kurz an, führt einen Schlauch drunter durch, und legt sie dann, mit einem überraschenden, vorsichtigen Zögern fast zärtlich wieder ab. Auch die Kamera verweilt für einen Sekundenbruchteil länger als nötig auf dieser zerbrechlichen, schönen, ganz menschlichen Hand.
RACHIDA ist mit dieser zurückgenommenen Aufmerksamkeit kein politisch präformiertes Sehen, sondern ein neugieriges phänomenologisches Betrachten. Auch den Vater, der seine Tochter in ihrer Notlage verstößt, macht er nicht zu einem bösen, herzlosen Mann, inszeniert in abfällig oder dergleichen. Stattdessen gesteht sie ihm eine ganz eigene Verzweiflung zu, und was man von den Regeln und Normen um Familienehre und Väter- bzw. Männerdominanz auch halten mag, RACHIDA urteilt darüber nicht. Kein
politisches Programm, kein Bestreben, gesellschaftlich-geschlechtlicher Mechanismen und Ungleichheiten zu enthüllen oder sichtbar werden zu lassen, motiviert das Beobachten des Films RACHIDA, sondern ein eigenständiges Interesse an der gesamten Sphäre des Gewaltopfers, das als solches und in diesem Sinne zwangsläufig zum Objekt wird (der Furcht, der Politik, der Schande, auch der Trauer), ohne jedoch dabei völlig aufzuhören, Mensch und gar Individuum zu sein.
Natürlich klagt RACHIDA auch an, verweist auf fundamentale Missstände, aber nur indirekt. In den einfach nur beobachtenden Momenten und mit dem darin enthaltenen Gestus ist der Film denn auch am vorzüglichsten, gelingt ihm doch ein entscheidender Balanceakt, an dem viele Film zu und über politische Gewalt (wenn auch nur in letzter Instanz) scheitern: sich den Opfern von Terror und Terrorismus anzunehmen, ohne sie in deren Logik und zu einem ähnlichen Zweck zu einem Ding zu machen, auszustellen und auf das reine Opfer-Sein zu reduzieren. Daher wird, bis auf die Attacke auf Rachida, die Gewalt weitgehend und konsequent ausgespart. Was zunächst kein Kunststück ist, doch in RACHIDA, und das ist selten, bekommt man nicht das Gefühl, das damit etwas in der Wahrnehmbarkeit fehle.
Bachir-Chouikh tat dies ganz bewusst:
„Die ganze Situation war so heftig‚ auch so absurd. Hätte ich versucht, die Gewalt auch noch direkt darzustellen, dann hätten die Zuschauer von Anfang bis Ende nur geheult und mit gelitten – das würde aber nicht weiterhelfen. Ich wollte den Menschen, von denen ich erzähle, ihre Würde lassen. Und ich wollte diese Gewalt für den Zuschauer gleichzeitig spürbar machen, wollte dass er sich identifizieren kann. Man muss dazu keine getöteten Menschen sehen. Es gibt andere Methoden, um diesen Grad der Gewalt spürbar zu machen“ (zit. n. Wolpert 2004).
Dass Rachida zum Gegenstand des Blickes wird, wie innerhalb des Films zum Objekt für die Männerwelt und ihre jeweilige „Pflicht“ (und auch die Terroristen im Dorf suchen schließlich nach „Rachida“, sondern „der Lehrerin“), ist unvermeidlich – die Frage ist eben nur, welcher Art der Blick und seine Einstellung ist. Dementsprechend zeichnet RACHIDA nicht die ungewohnte Distanz in der Betrachtung aus, sondern eine bemerkenswerte Blickachse.
IV. Frauenrechte in Zeiten des Krieges
Nicht nur, dass er von der nicht-offiziellen und alltäglichen Situation von „kleinen Leuten“, die in und mit der Gewalt leben, handelt, macht RACHIDA zu einem Gegenentwurf zu LA BATTAGLIA DI ALGERI – einem Film, der einen asymmetrischen Krieg zwar nicht feiert, ihm aber als historischen Erfüllungsauftrag gedenkt: Auch, wenn es um ihre Rollen, Rechte und Positionen der Frauen geht, präsentieren die beiden Filme unterschiedliche Ansichten.
Dass Frauen in Bürgerkrieg und Terrorkonflikten besonders leiden, als Mütter, Schwestern und Ehefrauen, die Kinder, Bruder, Mann verlieren, als Sexualobjekte, die geschändet werden (oder aus Furcht davor, weggesperrt), das ist im Grunde banal, und so gesehen rennt RACHIDA bestenfalls offene Türen ein. Spannend wird es hingegen, verdeutlicht man sich die Situation in den 1990ern und 2000ern als eine Zeit dreißig bis vierzig Jahre nach dem Unabhängigkeitskrieg.
Frauen sind und waren in allen Freiheitsbewegungen symbolisch und taktisch von großer Bedeutung (z.B. in Irland, vgl. u.a. Zywietz 2012). Für die Ehre der Frau oder im Namen der Frau wurde gekämpft – oder die gesellschaftlichen Regeln des Konzepts Weiblichkeit zum eigenen Vorteil genutzt. So zeigt LA BATTAGLIA DI ALGERI, wie sich FLN-Kämpfer in Ganzkörperschleier hüllen, um so unantastbar und unsichtbar vor der Polizei zu entkommen.
Wie in Irland im Cumann na mBan, dem Frauenverband der Irish Republican Army, nahmen freilich auch im Algerienkrieg Frauen aktiv teil, und „[i]t should be mentioned that the women’s movement has been the major component of civil society in Algeria, a status rooted in the legacy oft he Mujaheedatis (Algerian women independence fighters)“ (Cheref 2006, S. 61).
Charakteristisch für Unabhängigkeitsbewegungen über die Ländergrenzen hinweg sind jedoch ebenso die Lippenbekenntnisse für die Emanzipationsforderungen der Frauen bzw. das Vertrösten auf die glorreiche Zeit nach dem Sieg. In Irland spaltete Anfang der 20. Jahrhunderts der Streit, ob die geschlechtliche Gleichberechtigung zugunsten der Realisierung der Republik zurückgestellt oder als gleichranging mit der großen nationalistischen Idee verfolgt werden sollte, die Frauenbewegung. Auch später in Nordirland wurde der Feminismus mit dem Verweis auf ihre Beitragspflicht zur „Sache“ unter daraus abgeleiteten traditionellen weiblichen Rollenbildern begraben.
In Algerien war es nicht anders, wobei hier Frauenrechte überdies zwischen Staat und Islam (beide männerdominiert) zum Verhandlungsgut wurden: Der unter Bouteflicka eingeführte staatliche Algerian Family Code von 1984 schließt Elemente der Scharia mit ein – der Vater der Braut kann die Hochzeit verhindern, auch darf eine Muslimin keinen Nicht-Muslim heiraten. Vor allem wird der Status des Ehemanns als Familienoberhaupt, dem Respekt entgegenzubringen ist, zementiert (vgl. dazu wie zu dem Thema Staat und Frauenrechte im anderen Maghreb-Staaten Charrad 2001). Gegenüber den überlieferten Regeln der Stammestradition war die Bestätigung des Patriarchats zudem ein beschwichtigendes Zugeständnis angesichts der ökonomischen Krisen und politischen Ungerechtigkeiten.
Dieses Verkauftwerden der Gleichstellungsrechte nicht zuletzt deshalb traurig, weil nach der Unabhängigkeit Algerien lange als modernstes Land der arabischen Welt galt. Heute verhüllen sich laut dem Algierer Frauenzentrum CIDDEF neunzig Prozent der erwachsenen Algerierinnen – ein Drittel der Männer würden dies gerne zur Pflicht machen (vgl. Semouri 2011). Dalila Djerbal von Frauennetzwerk „Qussila“ zeigt sich außerdem schockiert von dem Ausmaß der Gewalt gegen Frauen und Kindern – sowie von der großen Anzahl der Frauen, die von ihren Familien verstoßen auf der Straße landen. „Der Frau wird in der patriarchalischen Gesellschaft deutlich zu verstehen gegeben, dass ihr Platz nicht im öffentlichen Raum ist, sondern dass sie zur Reproduktion da ist“ (Djerbal zit. n. Semouri 2011).
Der hijab gilt heute durchaus als etwas, mit dem man sich (notgedrungen?) arrangiert hat: der Schleier als Zugeständnis nicht gegen, sondern für die Freiheit, insofern der Islam verschleierten Frauen einen höheren Stellenwert einräumt (vgl. ebd.). Das Argument hat einen schalen Beigeschmack. In Zeiten des Bürgerkriegs war und ist an Emanzipation dementsprechend noch weniger zu denken, denn nicht nur sind die radikalen Islamisten leicht zu provozieren, es greifen auch die typischen Argumentations- und Beschwichtigungsmuster:
„Zur Zeit des Terrorismus in Algerien haben die Frauen gesagt: Angesichts der Toten und der Bomben ist das jetzt nicht der richtige Moment, um gleiche Rechte für uns einzufordern. Es ging damals ja um Leben und Tod. Aber einige Frauen haben auch damals schon gesagt: Doch, das ist eine prioritäre Frage, denn die Terroristen wollen ja den Frauen ein Lebensmodell aufzwingen, und denen muss man sofort deutlich widersprechen“, so Chérifa Bouatta, Professorin und Direktorin des algerischen PsychologInnenverbands SARP (zit. n. Kempis 2011).
In LA BATTAGLIA DI ALGERI schminke(t)n und (ver-)kleide(te)n sich noch drei Frauen im Dienste der FLN westlich und modern, um so unbehelligt in ihren Taschen Bomben durch die Straßenkontrollen in den französischen Teil der Stadt zu tragen und unter anderem in einer belebten Café-Bar zu deponieren. In RACHIDA hingegen ist es die von sich aus - also selbstbestimmt - westlich, moderne, ungezwungene auftetende Frau, die gezwungen werden soll, eine Bombe in die eigene einzuschmuggeln. Von einem Kampf mit Frauen und für ihre Freiheit, ist eher einer gegen sie und ihre Selbstbestimmung geworden. Berücksichtig man allerdings die historische Realität, mag sich auch der Kampf gegen die Franzosen von dem innerhalb des algerischen weltlichen Staat in vielem deutlich unterscheiden. Frauen als Frauen hatten und haben jedoch in beiden Kriegen, so scheint es, letztlich nichts zu gewinnen.
V. Terror und Terrorismus in RACHIDA
Für Laura Chakravarty-Box ist halbwegs klar, was die Gewalttäter in RACHIDA antreibt:
„The film makes it clear that the terrorists it depicts cherish violence for its own sake. In the Algeria of Rachida, the mosque is a muted voice, and the terrorists are vicious youths who steal, rape, and murder indiscriminately, citing religion as their excuse. The film suggests several ways in which these youths have become what they are. For example, the primary pastime of the little village boys is identifying and trading ammunition shell casings“ (Chakravarty-Box 2011, S. 9/10).
Chancenlosigkeit, Armut, Langweile, eine Ehr- und Männerkultur, all das kann man aus dem Film heraus- oder in ihn hineinlesen. RACHIDA aber selbst hält sich betont zurück. Das ist schade, denn so wird die Gewalt leicht zu einer Art Naturgewalt. Zugleich ist der Film nur konsequent in seiner Verweigerung, der ein dezidierter, moralischer Standpunkt zugrunde liegt:
„Vor allem zu Beginn des Terrors wurde, sobald jemand umgebracht worden war, schon bald von Gründen gesprochen, die vielleicht zu dem Mord geführt hätten. Dies empfand ich fast schon als Entschuldigung für den Mörder und als Beschuldigung des Opfers. Und was die Gründe für die Gewalt angeht, so finden sich Gründe für das Blutvergießen, die im Film auch unterschwellig erkennbar werden. Aber ich habe nicht den ‘Schlüssel’, um diese Barbarei zu verstehen. Ich kann sie nicht verstehen und ich will sie auch nicht verstehen! Denn wenn ich versuchte, sie zu verstehen, versuchte ich damit auch schon, sie zu rechtfertigen. Aber es gibt keine Rechtfertigung dafür, einem anderen Menschen das Leben zu nehmen. Es gibt keine Umstände, die zu beachten sind, wenn sich jemand entschließt, einen Menschen zu töten“ (Bachir-Chouikh zit. n. Wolpert 2004).
Ob Verstehen automatisch gleichbedeutend mit Rechtfertigen ist, ist freilich sehr rigoros und darf bezweifelt werden. Außerdem werden gerade so allzu eilfertige und simple Schlüsse befördert. Denn insbesondere das Patriachat bedeutet hier auf kultureller und sozialer Ebene eine zusätzliche Bedrückung für Frauen in Algerien, und oft ergänzt es den Schrecken und Repression der Terrorgewalt, doch beide sind nicht gleichzusetzen oder auf einen gemeinsamen Kern zurückzuführen. Die Ehre und Herrschaft des Vaters, die Beschützerrolle des Ehemanns oder Verlobten wird vielmehr selbst zunm Ziel, gedemütigt und attackiert. Was Frauen freilich nur noch mehr zum bloßen Unterpfand, zum Bauernopfer und zur Verfügungmasse degradiert. Letztlich aber, und das nimmt den Islam als eine ansonsten oft gehandelte Religion unter Gewaltverdacht wohltuend heraus, werden die Schüsse und Bomben nicht auf Sitten- und Glaubensfragen rückgeführt. Wie einfach das hier geht, ohne dass ein liebgewonnenes Erklärungsmodell fehlen würde, erstaunt und regt zum Nachdenken an. Auch Rachida gerät in Algier nicht wegen ihres liberalen Auftretens ins Visier der Extremisten, sondern in erster Linie aus taktischen Gründen – um die Bombe in die Schule zu tragen. Das Perfide dieses Plans allerdings provoziert an sich schon die Frage nach dem Warum umso mehr, und sei es nur, um die kranke Strategie dahinter eben restlos und endgültig als das von sich zu weisen, was es ist: barbarisch.
Indem Bachir-Chouikh die Bedingungen nicht ausblendet, sich aber ihnen auch nicht weiter annimmt (oder zumindest kein Interesse daran bekundet), belässt sie es bei einer (An-)Klage von Verhältnissen, hinsichtlich deren Veränderung sich außer pauschale Gewaltablehnung, der Apell ans abstrakt Zivilisatorische und Menschliche oder (im Film nicht ausgesprochen, aber immer mit zu bedenken, zumal aufgrund dem Fehlen jedweder aktiv schützender Staatsmacht:) einer autoritäre antiterroristische Kampagne der Härte, keine Lösungs- oder Zukunftsperspektive auftut. Das Heilende und Symbolische des Weiblichen und Mütterlichen allein, das RACHIDA immer wieder inszeniert, wie die Schleier, die die Frauen der gerade aus dem Wald zurück ins Dorf vor ihren Peinigern geflohene Zohra zum Bedecken stiften, scheint zu wenig.
Dass sich vor diesem Hintergrund die Grenzen zwischen Terror und Terrorismus auflösen, macht den Film bemerkenswert, wenn auch die Gründe hinter diesem Auflösen simpel geraten. Terror bezeichnet die Schreckensgewalt von „oben“, zur Festigung oder Durchsetzung bestehender Vormacht, Terrorismus die Provokationsgewalt von „unten“ gegen eine solche (weitgehend staatliche) Herrschaft. In der Hauptstadt Algier agieren die jungen Radikalen noch aus dem Untergrund heraus, die Banditen auf dem Land hingegen haben sich als Terrorherrscher etabliert, kommen und gehen, wie es ihnen gefällt, und sie können das, weil kein gleichwertige bewaffnete Handlungsmacht sich ihnen in den Weg stellt. Warum eben das Militär oder die Polizei keine oder nur eine reaktive, stets verspätete Rolle spielen, ob aus Gleichgültigkeit, einer perfiden Strategie wegen oder aufgrund von Überforderung, greift RACHIDA schlussendlich auch nicht auf.
Zwischen dem urbanen und dem ruralen Algerien mag damit insofern keine Grenze bestehen, als hier wie da Brutalität, Willkür und Furcht zu finden ist. Doch macht es in Erscheinung und Herausforderungen wie auch in der psychologischen und symbolischen Wirkung durchaus einen Unterschied, wo und welcher Art die Gewalt ist, wie sie auftritt und welche zivilen, auch sozialen, Ressourcen und Ordnungsstrukturen ihr gegenüberstehen. In Algier stammen die Gewalttäter aus der Mitte der Gemeinschaft. Ins Dorf hingegen dringen sie quasi von außen ein, werden damit zu Fremden. RACHIDA mag sich vielleicht bewusst einer Antwort versperren, woher sie hier wie da gekommen sind, dass die Räuber-Terroristen aber ehemalige Schüler Rachidas sind oder sein könnten, lässt der Film einen schlussendlich nicht glauben.
VI. Zur aktuellen Lage in Algerien
2006 schrieb Abdelkader Cheref:
„‚Critical Oppositional Women‘ like (die Journalistin und Menschenrechtsaktivistin – B.Z.) Salima Ghezali and (die Führerin der Arbeiterpartei, Frauenrechtsaktivistin und erste algerische Präsidentschaftskandidatin – B.Z.) Louisa Hanoune and ‚Functional Women Activists‘ like (die Feministin und algerische Kultur- und Kommunikationsministerin – B.Z.) Khalida Messaoudi are viewed by all political players as the symbols of Algeria as a nation – a nation with a schizophrenic identity.
Yet women are organizing in informal social and political associations, looking to their past roles in the revolution for inspiration. But they are not getting any support from traditionalist men and women, and the Algerian government is far more concerned with maintaining its absolute rule rather than economic and sociopolitical progress for all“ (Cheref 2006, S. 80).
Auch 2011 engagierten sich Frauen bei den Demonstrationen im Zuge des „Arabischen Frühlings“, der, von Tunesien ausgehend, so viele Länder erreichte – darunter auch Algerien. Die dortigen Proteste gegen die ständig steigenden Preise oder die ökonomische Perspektivlosigkeit (ein Drittel der Algerier ist arbeitslos, 70 Prozent unter 30 Jahre alt) wurden durch das harte Vorgehen des Militärs klein gehalten. Eine zentrale Forderung erfüllte die Regierung jedoch: die Aufhebung des seit neunzehn Jahren (also seit 1992) geltenden Ausnahmezustands und der entsprechenden Notstandsgesetze – wobei dies, so Adlène Meddi, Chefredakteur der algerischen Wochenzeitung El Watan Vendredi, lediglich ein Propagandatrick der Regierung sei.
„Der größte Unterschied zwischen den soziokulturellen Bewegungen in Algerien und in den anderen arabischen Ländern ist, daß die Algerier traumatisiert sind vom brutalen Bürgerkrieg zwischen Militär und Islamisten in den 90er Jahren. […] Algerien ist ein Pulverfaß, daß jederzeit explodieren kann“ (Meddi zit. nach Lejeune 2011).
Was dabei mit den Frauen in der algerischen Gesellschaft wird, welche Rolle ihnen (wieder) zukommt und ob ihre Freiheitsrechte und Gleichberechtigung einmal mehr von taktischem Wert sind, um hinterher wieder vergessen zu werden?
Wir werden sehen.
Bernd Zywietz
Literatur:
Chakravarty Box, Laura (2011): The North African Educator-Heroine on Film: Yamina Bachir-Chouikh’s Rachida. In: International Journal for Arab Studies, 2. Jg., Nr. 1, S. 1-21. Online unter: http://www.ijasjournal.com/PDF/Article_1_I2.pdf (letzter Zugriff: 30.09.2011)
Charrad, Mounira M. (2001): States and Women’s Rights: The Making of Postcolonial Tunisia, Algeria, and Marocco. Berkeley, CA: University of California Press.
Cheref, Abdelkader (2006): Engendering or Endangering Politics in Algeria? Salima Ghezali, Louisa Hanoune and Khalida Messaoudi. In: Journal of Middle East Women’s Studies, 2. Jg., Nr. 2, S. 60-85.
Kempis, Stefan (2011): Algerien: Das Gesicht der Revolution ist weiblich. Radio Vatikan, 24.02.2011. Online unter: http://www.radiovaticana.org/TED/articolo.asp?c=464927 (letzter Zugriff 30.09.2011).
Lejeune, Martin (2011): „Es ist ein Propagandatrick der Regierung“ . Durch die Aufhebung des Ausnahmezustands in Algerien hat sich die Lage kaum gebessert. Gespräch mit Adlène Meddi. (Aus: Junge Welt, 3. März 2011) AG Friedensforschung, online unter: http://www.ag-friedensforschung.de/regionen/Algerien/ausnahme.html (letzter Zugriff: 30.09.2011).
Semouri, Abida (2011): Verhüllen in der Öffentlichkeit. 48 Jahre Unabhängigkeit haben algerischen Frauen kaum Freiheiten gebracht. (Aus: Neues Deutschland, 8. März 2011) AG Friedensforschung, online unter: http://www.ag-friedensforschung.de/regionen/Algerien/frauen.html (letzter Zugriff: 30.09.2011).
Wolpert, Bernd (2004): „Ich habe nicht den Schlüssel, um diese Barbarei zu verstehen“
Yamina Bachir Chouikh (Regisseurin von "Rachida") im Gespräch mit Bernd Wolpert (EZEF). In: Zeitschrift Entwicklungspolitik, 4 / 2004. Online unter: http://www.gep.de/ezef/index_303.htm (letzter Zugriff: 30.09.2011)
Zywietz, Bernd (2012): Men in Troubles – IRA-Männer und Männlichkeit in Filmen zum Nordirlandkonflikt. In: Sylvia Schraut (Hg.): Terrorismus – Geschlecht – Erinnerung. Münster: LIT.
Abonnieren
Posts (Atom)