26.12.2012

THE INNOCENCE OF MUSLIMS – Zwischen Hetze und Satire, Medium und Botschaft (I)


Einleitung

Leider ist „Terrorismus & Film“ in letzter Zeit etwas eingeschlafen, was mit anderen Verpflichtungen zu tun hat – u.a. der Arbeit an einem Sammelband zum aktuellen deutschen Film, den Harald Mühlbeyer und ich herausgeben, und der im Februar 2013 erscheint. Eine andere angenehme Aufgabe war Anfang Dezember die Teilnahme an der Tagung „Religion als Kunst? Spiegelungen in Film und Literatur“, die vom 6. bis zum 8. Dezember 2012 im Rahmen des Projekts Wertewelten an der Eberhard Karls Universität Tübingen stattfand.

Mein Vortrag auf der Veranstaltung befasste sich unter dem Titel „The Innocence of Muslims zwischen Hetze, Satire und Kunst“ mit dem im vergangenen Herbst für internationales Aufsehen und Aufruhr sorgenden, also berühmt-berüchtigten YouTube-Video, das den Propheten Mohammed und den Glauben des Islams verunglimpft und vor allem in der arabischen Welt für Proteste und Ausschreitungen sorgte – oder für deren Anstiftung instrumentalisiert wurde, wie auch, medial, diese Video samt den Protesten dagegen gerne aufgegriffen und skandalisiert wurden.

Der Tod des US-Botschafters John Chris Stevens und drei weiterer Konsulatsangestellter im libyschen Bengasi wurde beispielsweise offenbar allzu eilfertigeinzig einem wütenden, durch das „Schmähvideo“ in Rage gebrachten Mobzugeschrieben. Wahrscheinlicher aber handelte es sich vor allem um einen gezielten Anschlag am Mahndatum 11. September, eine Vergeltungsaktion für den im Juni per Drohnenangriff in Pakistan getöteten al-Qaida-Vize Abu Jahja al-Libi. Al-Libi, der insbesondere für die ideologischen Ansprachen zuständig war, stammte aus Libyen; dort sollte er, gemäß dem Aufruf von Bin-Laden-Nachfolger Aiman al-Sawahiri auch gerächt werden. Das taktische, vorbereitete Vorgehen der Attentäter sowie ihre Bewaffnung lassen darüber hinaus vermuten, dass es sich bei dem Sturm auf die Botschaft der Vereinigten Staaten um keine spontane Aktion handelte, die von schierem Volkszorn ausging. Vielmehr wurden die Proteste als Deckmantel genutzt, um den Angriff auf das – freilich nicht ausreichend gesicherte – Konsulat durchzuführen.

Doch zurück zum „Film“ THE INNOCENCE OF MUSLIMS oder, auf Deutsch, DIE UNSCHUL DER MUSLIME. Unabhängig von der tatsächlichen, vermeintlichen oder inszenierten bzw. behaupteten Erregung und Empörung über den Film (samt den sich daran anschließenden Reaktionen) sind es doch gerade die in ihrer Form vielfältigen Vereinnahmungen und (z.B. diskursiven) Einordnungen und Nutzungen, die das 13-Minuten-Video, seine Zirkulation und die (in hohem Maße: symbolische wie performative) Aufmerksamkeit (und Aufmerksamkeitspraxis) ihn betreffend, die ihn hochgradig interessant machen. Der Begriff der Erregungsspirale erfasst das zu beobachtende kommunikative Interaktionsschema dabei nur ungenügend, lassen sich doch auch Seiten- und Gegenbewegungen ausmachen, die ein weit komplexeres „ökonomisch“ beschreibbares System ergeben.

So gibt es nicht nur die direkten Profiteure der Provokation wie den pakistanischen Eisenbahnminister Ghulam Ahmad Bilour, von dessen Existenz manhierzulande wohl kaum je Notiz genommen hätte, hätte er nicht öffentlich ein100.000-Dollar-Kopfgeld auf die dubiosen Produzenten von THE INNOCENCE OF MUSLIMS ausgelobt (und gar die Taliban und al-Qaida um Unterstützung gebeten). Eine freilich so durchsichtige, zugleich erstzunehmende und bedenkliche Geste, selbst man nicht um Menschenleben fürchtet. Allzuschnell nutzen nämlich nicht nur Einheizer und Demagogen alles, was ihnen an „Respektlosigkeit“ gegenüber dem Islam von Seiten des Westens aus zweckdienlich ist – auch die hiesigen Medien sind, siehe Bengasi, siehe den Eisenbahnminister (der es daraufhin bis in die Tagesschau schaffte), schnell bei der Hand, eine wohlgefügte, welt- und (wenigstens in ihrem Handeln) menscherklärende Story zu konstruieren, die eine simple Kausalität, eine emotionale wie politische Wirksamkeit und Relevanz von medialen und künstlerischen Äußerungen und Ausdrücken behauptet und letztlich „belegt“. Welche wiederum zwangsläufig und unvermeidbar zur grand narrative eines „Kampfes der Kulturen“ beiträgt – und einem Antiislamismus oder eine Islamophobie zuarbeitet, die sich selbst prächtig formelhaft einsetzen lässt.

Es ist dann wahlweise zynisch, ignorant oder hilflos, parallel zu oder im Anschluss an solchen dominanten narrativen Mustern in den Rundfunk-, Online- oder Printkommentaren zu mahnen und beteuern, die Vorstellung von Clash of Cultures sei ja irrig, zu vereinfacht (oder vereinfachend); dass es hier wie da (vor allem: „da“) opportunistische Einpeitscher und Aufhetzer gäbe, dass Huntingtons Modellierung in diesem (oder: solchen) Fällen ungeeignet sei, etc. Zumindest, wenn Mohammed-Karrikaturen in Tageszeitungen bis hin zu fragwürdigen (Mach-)Werken auf Internetvideoportalen mit den Bildern von aufgebrachten skandierenden Menschenmengen mit brennenden Landesflaggen in staubigen Straßen zusammenmontiert wird, kann man nämlich von der – vielleicht gar automatisch sich aufdrängenden – Etablierung oder Verstärkung eines „Reiz-Reaktions-Schema“-Schemas (also eines Meta-Schemas) sprechen, oder, einer Assoziationsmontage (wenn auch nicht ganz im Sinne Sergej Eisensteins). In beiden Fällen geht es aber um den Ausdruck einer Logik, die in hohem Maße ideologisch, sprich: nicht natürlich (oder zwangsläufig) ist. Und wie lässt es sich auch nicht von einem „Kampf der Kulturen“ sprechen (freilich: welcher Art von Kultur? Zumindest der medialen im engeren und weiteren Sinne), wenn in der Tagesschau am 21.09.2012  ein Bericht von Gabor Halsz aus Pakistan zum einen einen Mob zeigt, der in Peschawar ein Kino stürmt und es in Brand steckt (wobei die zentralen Informationen, Kino, Sturm, Brandstiftung auf der Ebene der Kommentierung nachgereicht werden). Ein Fernsehteam, so heißt es weiter, sei „zwischen die Fronten“ geraten, der Fahrer erschossen worden. Und im Anschluss der Hinweis auf die bezahlten TV-Spots der Obama Regierung („A message from the President of the United States Barack Obama and Secretary of State Hillary Clinton“. Auf Englisch und in „muslimischer“ Kaligrafie), die beteuern, die USA hätte mit dem Video INNOCENCE OF MUSLIMS nichts zu tun (bemerkenswert dabei, wie straff Clintons Haar zurückgebunden ist – um sie weniger weiblich wirken zu lassen? Man weiß ja, was Frauen in solchen Gemeinschaften und Milieus gelten…).     

Eine Kino wird zerstört, ein Kamerateam attackierte und staatliche Fernsehpropaganda in fernen Staaten, mit dem sich die mächtigste Nation der Erde von einem ominösen YouTube-Video zu distanzieren sucht: Es mutet nicht nur auf den ersten Blick bizarr, absurd oder stupide an. Was hat das Kino mit einem Film im Internet zu tun? Glauben Obama und Clinton allen Ernstes, das Protestklima würde sich im Nahen und Mittleren Osten auflockern und ihre Botschaften und Konsulate, ihre Bediensteten und US-Bürger sicherer sein, würde man die USA nicht dem Film in Verbindung bringen – wenn ansonsten zwar auch mit dauernden Drohnenangriffen in der Region, mit Waffenlieferungen an das saudische Königshaus, den Zuständen im Irak und der Solidarität mit Israel.

Beide Reaktionen sind allerdings nicht auf ein unmittelbares Wirkungsergebnis hin gedacht, sondern, in Peschawar, hochgradig affektgeleitet und symbolisch (das Internet selbst lässt sich schlecht stürmen und in Brand setzen; und auch, wenn THE INNOCENCE OF MUSLIMS wenig mehr als nur vorgibt, ein „echter Spielfilm“ zu sein – bzw. darauf zu verweisen; dazu später mehr – ist das Kino und vor alle die Leinwand für viele Fundamentalisten ein Hort der Sünde und Sittenlosigkeit, zugleich Teil eines umfassender zu denkenden, „westlichen“ Medien- und Unterhaltungsangebots). Demonstrativ und politisch wiederum ist die Reaktion aus Washington, etwa als Signal an die pakistanische Regierung, mit der man sich spätestens nach dem unabgesprochenen Kommandoeinsatz im vergangenen Jahr, mit dem man nicht nur den Erzfeind und Teufel des 11. September triumphal und vergeltend eliminiert, sondern auch den Staat Pakistan düpierte.

Aus dieser Perspektive war und ist den Protestlern also THE INNOCENCE OF MUSLIMS vor allem und nicht ganz unlogisch eine weitere, wenn auch andere Art von „Drohne“, eine, die direkt von den USA aus, aus Kalifornien – zwar nicht durch die Luft, aber durch das globale Datennetz – auf den Weg gebracht wurde. Mit einem anderen Sprengkopf und vielleicht einem anderen Ziel, nichtsdestotrotz in puncto Respektlosigkeit und Erniedrigung von ähnlicher oder gar noch größerer kollateralschädlicher "Sprengkraft".

Der Clash of Cultures ist hier einmal mehr und im Besonderen einer, der den Austausch von Botschaften betrifft. Den Sturm auf das Kino oder die Weißglut, die ein Kamerateam erfasst, gar Menschenleben kostet, „verstehen“ wir nicht (weil es uns abstößt, aber auch, insofern sie Ausdruck einer weit größeren Beschwerde von Muslimen sind). Derweil die Fernseh-Erklärung aus dem Weißen Haus niemanden von jenen erreicht hat, an die sie formal adressiert war – und selbst wenn, wurde sie wohl höchstens mit Ungläubigkeit und eher noch mit Hohn und Verachtung quittiert. Auf der anderen Seite wiederum: ein missverstandener – weil im Westen nicht als solcher registrierter – terroristischer Anschlag in Begansi. Und zentral ist doch für Terrorismus das Element der Message ... 

Das einzig geglückte Kommunikationsverhältnis dieses Herbstes im Jahre 2012 war, und das ist die Ironie des Ganzen, jenes zwischen den verfeindeten Radikalen – zwischen den antiislamischen Machern von THE INNOCENCE OF MUSLIMS und jenen, die sich davon provoziert fühlten. Beziehungsweise denen, die den Film eben zur angedachten Provokation weiterverwendeten – wie ein vielleicht nicht mit genauen Spezifikationen in Auftrag gegebenes, gleichwohl passgenau für den eigenen Zweck hergestelltes Instrument.

Man bedenke: Erst, als die untertitelte Fassung des Videos im ägyptischen Fernsehen ausgestrahlt wurde, war der Funke gelegt. Was sagt das über die Chancen und Risiken von völker-, staats-, religions- und kulturübergreifender Verständigung aus?  

Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund ist, wie geschmacklos und so belanglos er an und für sich ist, der Film THE INNOCENCE OF MUSLIMS als Phänomen und Zeichen höchst spannend in seinem Einbettung in einem Problemkomplex, der sich um ihn herum anordnen lässt. Unseligerweise ist das Video folglich nicht nur ein aktuelles, sondern auch ein besonders spektakuläres Beispiel weil vorzügliches Anschauungsobjekt, in dem sich mehrere Diskurs- und Perspektivlinien kreuzen, verstärken und denn auch: auf den Punkt gebracht sind. Das ist das Erschreckende an THE INNOCENCE OF MULISM – dass diese Video voller angeklebter Bärte, nachsynchronisierter Dialogpassagen und Green-Screen-Wüstenbilder so übermäßig eindeutig, uncachiert, erscheint.


Angesprochen hat man mich schon – ob ich nicht etwas hier dazu schreiben möchte, schließlich befasse ich mich ja mit Film und politischer Gewalt sowie mit dem, was sich daran anschließt. Dass ich es bislang nicht getan habe, liegt daran, dass ich weniger einen weiteren Wortbeitrag zu den vielen anderen im September und Oktober beisteuern wollte. Nicht, weil schon alles gesagt wurde (eher im Gegenteil). Sondern weil ich mit dem Gedanken spiele, mich auf welche Weise auch immer (vielleicht mit einem Sammelband?) mit der Causa THE INNOCENCE OF MUSLIMS bzw. den von dem Fall ausgehend Folgen, den damit verbundene Aspekte, die assoziierten und assoziativen Herausforderungen und Grundfragen in einem größer angelegten Rahmen zu behandeln. Wie schon die Mohammed-Karrikaturen, jedoch in bestimmten, wichtigen Elementen noch weiterreichender und unbequemer als diese (so scheint es mir), konfrontiert uns THE INNOCENCE OF MUSLIMS, wenn teilweise auch indirekt, mit Themen wie dem des religiösen Bilderverbots in Zeiten einer durchpiktoralisierten (Post-)Moderne, der Realität medienkonvergenter und multimedialer Verbreitungs- und Kommunikationswege, des Rechts und des Ethik von Kunst- und Meinungsfreiheit oder den Praxen, Folge und Bedingungen kultureller Übersetzungs- und Austauschprozesse im Internetzeitalter. Gegenüber den Mohammed-Karrikaturen und der versuchten Ermordung Kurt Westergaards, dem Film und der Ermordung von Theo van Gogh oder Salman Rushdies „Satanischen Versen“ und der darauffolgenden Fatwa mag THE INNOCENCE OF MUSLIMS die Aufmerksamkeit nicht wert sein. Doch hieße das zum einen, eminente Gesichtspunkte des Falles ignorieren, die gerade auf kommende Entwicklungen verweisen, die Gesellschaften in West und Ost noch gehöriges und zunehmendes Kopfzerbrechen bereiten werden. Zum anderen ist eine Betrachtungsweise, die eine ernsthafte Beschäftigung mit THE INNOCENCE OF MUSLIMS leugnet, weil der Gegenstand – ein abstruses Video auf einer populären, an abstrusen Videos reichen Plattform im Internet – quasi unwürdige ist, selbst schon ein Phänomen, das man in puncto Ursache, Motivation und Ziel und Folgen ernst nehmen muss.

Die folgenden Texte, die ich hier in der nächsten Zeit einstelle, sind ein erster Streifzug durch das skizzierte Untersuchungs-, Konflikt- und Problemfeld. Dieses Feld ist nicht auf THE INNOCENCE OF MUSLIMS begrenzbar, auch andere Artefakte, Ereignisse und Facetten aus dem Bereich Film, Kunst und Medien werden betrachtet.

Die Beiträge basieren maßgeblich auf dem eingangs erwähnten Vortrag bzw. dem entsprechenden Skript, erweitern und vertiefen diesen bzw. dieses jedoch. 



  






16.11.2012

CfP: 12. Workshop des NTF

Am 14. und 15. März findet der nächste Workshop des Netzwerks Terrorismus an der UdK in Berlin statt. Schwerpunktthema ist das Wechselverhältnis zwischen analoger und digitaler Sphäre in Hinsicht auf die Wirkungen, Wahrnehmungen und Folgen von Terrorismus (sowie von dessen Bekämpfung und Prävention). Natürlich können auch wieder andere Themen der Terrorismusforschung eingereicht werden. Gerade junge WissenschaftlerInnen sind aufgerufen, ihre Forschungsarbeiten oder -konzepte vorzustellen und zu diskutieren.

Hier der komplette CfP:

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Call for Papers

12. Workshop des Netzwerk Terrorismusforschung (NTF)
Schwerpunktthema: Terrorismus A/D: Wechselwirkungen zwischen analoger und digitaler Sphäre


Ort und Zeit: Der 12. Workshop des Netzwerk Terrorismusforschung (NTF) findet statt am 14./15. März 2013 im

Arbeitsbereich Internetsoziologie
(Institut für zeitbasierte Medien, Fakultät Gestaltung) der


Universität der Künste Berlin

Zum Thema:
Cyberterrorismus ist kein neues Phänomen: nicht erst seit der Hochphase des islamistischen Terrors rund um 9/11 dürfte allgemein bekannt sein, dass alle Beteiligten - Staaten wie Terroristen - versuchen, das Internet massiv für ihre Zwecke zu nutzen, beispielsweise auf der Propaganda- oder der Rekrutierungsebene. Aufgrund dieser Entwicklungen ist auch der Begriff des Cyberkrieges nicht neu: "Cyber"-Phänomene dieser Art wurden in den letzten Jahren teilweise sehr intensiv ausgeleuchtet, Begrifflichkeiten geprägt – und Szenarien realisiert. Was jedoch fehlt, ist eine gleichberechtigte Analyse der Wechselwirkungen zwischen analoger und digitaler Lebensrealität, sprich: ein Ausleuchten der Pfade zwischen neuen Cyber-Phänomenen und „alter Welt". Dabei erscheint es zwingend notwendig, den Terminus der Wechselwirkung besonders zu betonen. Es geht also nicht um Einbahnstraßen, sondern um permanentes Pendeln zwischen den Polen: Wie prägt beispielsweise Digitalisierung ein kulturelles/rechtliches/soziales Bild von Terrorismus und wie prägt diese (erneuerte) Sichtweise wiederum die digitale (Anti-)Terror-Arbeit? Wie stark sind diese Wechselwirkungen in den unterschiedlichen Bereichen, welche Akteure dominieren bzw. werden dominiert, welche Faktoren spielen hier eine besondere Rolle und wann haben sich welche Wechselwirkungen wie (nicht zuletzt in der „analogen" Welt) manifestiert? Der kommende Workshop des Netzwerks Terrorismusforschung (NTF) möchte dazu einladen, auf gewohnt multidisziplinärer Ebene die Wechselwirkungen zwischen analoger und digitaler Sphäre in Hinblick auf Terrorismus und Extremismus auszuloten.

Dabei ist die Veranstaltung natürlich wie immer nicht nur auf diesen Themenbereich beschränkt, sondern soll auch Raum für andere terrorismusbezogene Vorträge und Arbeiten bieten. Insbesondere Promovierende laden wir ein, ihre Projekte in diesem Rahmen vorzustellen.

Beiträge und Deadline:

Die Beiträge sollten einem Vortrag von bis zu 30 Minuten Länge entsprechen. Im Anschluss ist jeweils eine Diskussion von 30 bis 45 Minuten Länge vorgesehen. Abstracts (ca. 500 Wörter) senden Sie bitte bis zum 31. Dezember 2012 an humer(at)udk-berlin.de

Eine Tagungsteilnahme ohne eigenen Vortrag ist möglich; auch in diesem Fall ist jedoch aufgrund der begrenzten Teilnehmerzahl eine namentliche Anmeldung bis zum 31. Dezember notwendig. Gegebenenfalls wird zur Deckung anfallender Kosten eine geringe Tagungspauschale erhoben. Das Programm und weitere Informationen zum Workshop werden Anfang Februar bekanntgegeben.

Zum Netzwerk Terrorismusforschung:
Das Netzwerk Terrorismusforschung (NTF) ist ein Zusammenschluss von mittlerweile über 300 jungen WissenschaftlerInnen aus verschiedenen Disziplinen, die sich mit Fragen und Problemen des Themenbereichs Terrorismus und Terrorismusbekämpfung befassen. Es soll Kontakte schaffen und als Forum dienen für Ideen- und Informationsaustausch, zur Vorstellung von Projekten sowie deren gemeinsamer Initiierung, Planung und Realisierung. Das zentrale Werkzeug ist neben der Website und dem Mailverteiler der halbjährlich stattfindende Workshop. Auf diesem können laufende wie abgeschlossene Arbeiten sowie Projekte präsentiert und diskutiert werden. Das Netzwerk Terrorismusforschung steht darüber hinaus Interessierten aus Medien, Verwaltung und Politik offen und bei Anfragen – z.B. für den Kontakt mit Experten bei spezifischen Fragen – zur Verfügung.

http://www.netzwerk-terrorismusforschung.de


SprecherInnen des Netzwerks Terrorismusforschung:

Justyna Nedza (Bochum)
Sebastian Baden (Karlsruhe)
Bernd Zywietz (Mainz)

Workshop-Kontakt:

Dr. Stephan G. Humer
Universität der Künste Berlin
Grunewaldstr. 2-5
10823 Berlin

10.11.2012

Medien und Terrorismus - B. M. Jenkins damals und heute

"The Psychological Implications of Media-Covered Terrorism" revisited

von Bernd Zywietz

Fast dreißig Jahre ist er nun alt: Im April 1981 hielt Brian Michael Jenkins in Sizilien auf einer internationalen Konferenz zum Thema Terrorismus und Massenmedien einen Vortrag, der in erweiterter Form im selben Jahr als kleine Broschüre der RAND Corporation (deren Senior Advisor Jenkins heute ist) erschien: The Psychological Implications of Media-Covered Terrorism heißt der rund zehnseitige Text des Terrorismus-Experten und ehemaligen Special-Forces-Mitgliedes.

Vieles ist seither zum Verhältnis von Terrorismus und Medien geschrieben worden - wie auch zu der Bedeutung der Medien für den Terrorismus. Und auch damals schon waren diese Themen akut, nicht zuletzt aufgrund der US-Botschaftsbesetzung in Teheran ab 1979, die erst wenige Monate vor Jenkins‘ Vortrag zu Ende gegangen war. Ein Jahr später, 1982, erschien dann Alex P. Schmids und Janny de Graafs Insurgent terrorism and the Western newsmedia (Beverly Hills, CA: Sage), später u.a. Philip Schlesingers, Graham Murdocks und Phlllp Elliotts Televising ‚Terrorism‘: Political Violence in Popular Culture (London 1983: Comedia). Als „rhetorischen Genre“ der Medien wurde Terrorismus von Ralph E. Dowling 1986 erklärt (im Journal of Communication, 36. Jg, Nr. 1, S. 12-24).

Wie aktuell sind nun Jenkins Beobachtungen und Schlüsse nach knapp drei Jahrzehnten und angesichts der neuen aktuellen Bedrohung?

So einiges ist mittlerweile Allgemeingut und war es vielleicht damals schon: Dass die Rolle der Nachrichtenmedien nicht von terroristischen Aktionen losgelöst zu betrachten ist; dass Terrorakte von den Medien weiterverbreitet werden – und dass Terrorismus ein Sensationsfall darstellt, bei dem die mediale Aufmerksamkeit in keinem Verhältnis zu der tatsächlichen – statistischen – Opferzahl steht.

Doch Jenkins ist hier sehr genau und denkt weiter, weiter zumindest als es angesichts solcher Gemeinplätze oftmals der Fall ist. Schon im ersten Satz spricht er nicht von den Medien, sondern eben von ihrer Rolle und bringt es auf den Punkt, wenn er konstatiert, dass terroristische Taten nun mal einen hohen Nachrichtenwert haben: Dass verhältnismäßig wenig(-er) über gewöhnliche Morde berichtet werde, liege eben daran, dass sie genau das seien: gewöhnlich, üblich, vielleicht gar alltäglich. Dem Vorwurf, die Massenmedien würden „zuviel“ über Terrorismus berichten, begegnet Jenkins denn auch mit der rhetorischen Gegenfrage: „Who is to say how much coverage is too much?

Diese Selbstverständlichkeiten sind nun schnell keine mehr, wenn man Jenkins‘ Beobachtung auf ein anderes Feld gerade in jener Zeit überträgt: das der Risikoforschung und -bewertung (wie sie hier auf dieser Seite auch immer wieder Thema ist). Was dort mühselig als Erkenntnis erschlossen werden musste – und noch lange Jahre Streitmaterial abgab –, ist hier schon „zu haben“: Die Einsicht, dass Risiken, wie eben auch terroristische Untaten, in ihrer Bedeutung und Einschätzung für die Bürger (und die Medien stehen diesen letztlich immer näher als den in akademischen Parametern denkenden Experten) nicht auf sachlicher Zahlenkalkulation aufbaut, die ein Risiko z.B. als Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintrittes multipliziert mit dem Schadensausmaß bemisst, sondern Faktoren wie individuelle Betroffenheit, Kosten-Nutzen-Denken, „Schrecklichkeit“ und „Gerechtigkeit“ einen hohen Stellenwert einräumt. (Die Nachrichtenwerttheorie, frei von zweckhaften Ansprüchen wie sie das risk assessment zum Beispiel für Planverfahren zu erfüllen hat, hat es bei der Analyse dessen, was wichtig ist oder erscheint, deutlich einfacher.)

Die Berichterstattung sei zu oberflächlich und nur immer krisenzentriert? Selbst dem gewinnt Jenkins – implizit – etwas ab, was sich in etwa so liest: Berichtet wird natürlich nur, sobald etwas geschieht, und wenn die Hintergründe zu kurz kommen, mag dies nicht im Sinne einer aufgeklärten Bevölkerung sein, doch ebenso wenig im Sinne der Terroristen, die auf ihr Anliegen und dessen Dringlichkeit sowie die Notwendigkeit ihres Tuns aufmerksam machen wollen.

Dies ist freilich etwas gewagt, denn nicht für die Terroristen berichten ist nicht dasselbe wie nicht umfangreich über sie berichten. Ein Beitrag über die Ungerechtigkeit in der muslimischen Welt, ausgelöst durch westliche Ausbeutung und repressive Regime mag ein Punkt für die Terroristen in ihrem Propagandakampf geben. Zugleich lassen sich aber in dem Kontext auf die Untaten dieser extremistischen Gruppen in eben diesem ihrem gerechten Kampf hinweisen: so wenn beispielsweise darüber informiert wird, dass ihnen mehr Muslime als Christen bzw. Westler zum Opfer fallen – was gerade das von ihnen präsentierte manichäische Bild klarer Gut- und Böse-Lager unterminiert.

Jenkins selbst favorisiert ein Experimentieren der Medien, um die angemessene Art der Berichterstattung zu finden, denn Zensur könne ja keine Lösung sein. Dies ist auch wieder so scheinbar banal wie zugleich alles andere als selbstverständlich: Shannon A. Bowen bietet die Verweigerung der Berichterstattung quasi zum medialen „Austrocknen“ des Terrorismus als normativen Nachrichten-Frame an – im Jahr 2005. Eine seltsame Unzeitgemäßheit ergibt sich dabei. Weniger, weil Jenkins seiner Zeit so voraus war, als dass Bowen von einem vielleicht nicht überkommenen, so doch aber sehr traditionellem Medienbild und seiner Wirkung ausgeht, das sie denn auch mit einer großen Anzahl von Texten aus den 1980ern und 1990ern stützt.

Was nämlich Jenkins nicht voraussehen konnte und Bowen nicht recht berücksichtigt ist die Erosion des großen Blocks Massenmedien, der als eigenes aktives System zwischen den Terroristen und „seinem“ Publikum vermittelt. Natürlich erhalten wir die Informationen über Anschläge und Entführungen immer noch zumeist aus dem Fernsehen oder der Zeitung, doch gerade in Sachen Zensur (die ja auch eine freiwillige Eigenzensur sein kann und es oft auch schon gewesen ist) hat sich mit den Medien (-werkzeugen) Videokamera und vor allem dem Internet eine ganze neue mediale Praxis im Zeichen der digitalen Revolution herausgebildet, die auf der einen Seite das Publikum sich seine Informationen – auch die zu Hintergründen und Kontexten – selbst erschließen lassen kann und auf der anderen Seite für Terroristen ganz andere Formen der Vermittlung und Präsentation bietet.

Ein krasses Beispiel sind denn auch die Enthauptungsvideos radikaler Islamisten, die, selbst gedreht und ins Internet gestellt, nicht nur Terrorakt und mediale Botschaft quasi zusammenfallen lassen, sondern die Produktion und Distribution des Schock-Bildes ganz in die Hände der Terroristen legt. Zensur – und hier mag man dieses Wort schon gar nicht mehr benutzten, sondern eher von selbstverständlichem menschlichen An- und Verstand reden – bedeutet in dem Fall nicht mehr, keine Meldung, keine Aufnahmen zu machen oder machen zu können, sondern bereits Existierende quasi „verschwinden“ zu lassen. Sicher, auch von Schleyer gab es Video-Aufnahmen in seinem „Volksgefängnis“ und Fotos von Aldo Moro – doch eben noch kein World Wide Web, in dem sich als Informationsdschungel sowohl alles finden, wie verstecken und letztlich auch: anpflanzen lässt.

Jenkins, in seinem bald dreißig Jahre alten Text, streift viele wichtige Aspekte, die das Verhältnis von Terrorismus, Medien und Zuschauer ambivalent werden lässt. Niemand könne in diesem Feld jedoch zufrieden sein. Für Terroristen sorgen die Massenmedien für die nötige Aufmerksamkeit, doch oftmals nicht in der Art und dem Maße, wie die es sich wünschen; Medien können einen „public backlash“ erzeugen – und eine Abnutzung von terroristischen Taktiken durch immer dieselben Bilder und Meldungen mit sich bringen, die den Zuschauer abstumpfen lassen, der mit einem „inhaltsleeren“ Spektakel zurückbleibt. Terroraktionen sind wiederum „ansteckend“, sie inspirieren andere und dies, natürlich, über die ihre mediale Verbreitung. Die Berichterstattung führt auch die Regierung als kraftlos vor – zumindest wenn es um den Schutz der Bürger geht; sie provozieren das Zurückschlagen, um Stärke zu demonstrieren, um „sichtbar“ zu werden.

Ein weiterer interessanter Faktor, den Jenkins anspricht: Gewisse terroristische Taktiken sind quasi aus sich selbst heraus medial präsenter und „spannender“ als andere, z.B. die Geiselnahme oder Flugzeugentführung, die länger andauert und über den Ausgang im Unklaren lässt („That is genuine drama“ – Jenkins, S. 5), im Gegensatz z.B. zu Bombenanschlägen, die eher „übersehen“ würden.

Gerade hierin zeigt sich jedoch die Grenze des allgemeinen Symbiose-Konzepts von Terrorismus und Massenmedien: Zu wenig werden die unterschiedlichen Arten des Terrorismus berücksichtigt, seine Ziele und Mittel. Denn tatsächlich stammt viel vom Verständnis zum Bereich Terrorismus und Medien aus einer Zeit, in der Terrorismus in erheblichem Maße die Suche nach Aufmerksamkeit war, symbolische Gewalt, die in der noch jungen internationalen Welt der TV-Satellitenübertragung einen Platz suchte.

Aktionen wie die Geiselnahme von München 1972 oder die Flugzeugentführungen der palästinensischen Radikalen ab den späten 1960ern waren darauf ausgelegt, den Blick der Welt auf die Missstände in der Behandlung ihres Volkes aufmerksam zu machen. Die spektakulären Aktionen von al-Qaida haben dagegen eine andere Dimension. Man darf sich von dem damaligen internationalen Kleinkrieg von u.a. dem Schwarzen September gegen Israel auf der einen Seite und Osama Bin Ladens Videobotschaften und die monströse Wirkung der Bilder des 11. September auf der anderen Seite nicht täuschen lassen: Weniger wie der linksrevolutionäre Terrorismus der 1970er und mehr wie der nationalseparatistische „Zermürbungs“-Terrorismus der IRA, der ETA oder der FLN in Algerien wird beim aktuellen Neue Terrorismus eher im Sinne eines Krieges gedacht. Auch hier gibt es Forderungen (allgemeinere, weniger taktische: den Rückzug aus dem Land der Heiligen Städten, aus dem Irak, aus Afghanistan), selbstverständlich wird auf die Medienwirkung spekuliert. Doch es ist eine etwas andere Qualität, mit der es umzugehen gilt: In Nairobi und Daressalam wurden die Botschaften gesprengt, nicht besetzt – die Flugzeuge des 11. September nicht entführt, um mit den Geiseln politische Gefangene freizupressen, sondern sie und viele andere ohne Warnung oder direkter Botschaft in einer Selbstmordaktion umzubringen.

Terrorismus mag „Theater“ sein, eine Wendung, die Jenkins prägte (was allerdings auch Gabriel Weimann für sich in Anspruch nimmt), die aber auch in Rechnung stellen muss, dass es unterschiedliche Arten von Theater gibt. Neben der gepflegten Salonkomödie und dem brecht’schen Lehrstück das experimentelle Theater und das des unmittelbaren Schocks. Wir Rapoport (2004) zeigt, hat es in den unterschiedlichen Wellen des Terrorismus jeweils auch immer eigene vorherrschende Taktiken gegeben z.B. das Attentat bei den Anarchisten des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Der vermeintlich gottgefälligen Massenmordterroristen von al-Qaida brauchen sich heutzutage nicht darum kümmern, ob seine Aktion „spannend“ ist und das Publikum als Drama ausgiebig fesselt. Ihre Ansprechpartner sind die Muslime in den eigenen Ländern; was die restliche Welt und vor allen den feindlichen „Westen“ betrifft machen sie hingegen in ihrer brüllenden „Sprachlosigkeit“ und konfrontativen Kriegs- und Vergeltungslogik die Meldungen praktisch selbst. Medial und mit aller Gewalt. Ob dabei die gleichen Parameter gelten, wenn es um die Rolle und Wirkung der Massenmedien geht, wie sie vor dreißig Jahren anzutreffen war, dürfte bezweifelt werden. Manchmal, so scheint es, wäre es geradezu beruhigend und wünschenswert, noch journalistisch unethische Interviews mit Terroristen führen zu können.


Brian M. Jenkins The Psychological Implications of Media-Covered Terrorism (1981) ist als pdf-Datei über die Website der RAND Corp. HIER herunterzuladen.


Literatur – falls nicht bereits im Text ausführlich genannt:

Bowen, Shannon A. (2008): Frames of Terrorism Provided by the News Media and Potential Communication Response. In: H. Dan O’Hair et. al. (Hg.): Terrorism. Communication and Rhetorical Perspectives. Cresskill, NJ: Hampton Press, S. 337 – 358.

Rapoport, David C. (2004): The Four Waves of Modern Terrorism. In: Audrey Kurth Cronin / James M. Ludes (Hg.): Attacking Terrorism. Elements of a Grand Strategy. Washington, D.C.: Georgetown University Press, S. 46 – 73.

02.11.2012

Verschwundenes PARADISE NOW


Wieso ist das Filmheft zum Selbstmorddrama von 2005 nicht mehr offiziell online zu bekommen?


Im Rahmen meiner Promotion habe ich mich auch mit Hany Abu-Assads palästinensisch-deutsch-französisch-niederländisch-israelischem Spielfilm PARADISE NOW (2005) beschäftigt. Die Geschichte zweier palästinensischer Jugendfreunde, alltägliche junge Männer in Nablus, die sich als Selbstmordattentäter gemeldet haben und nun losgeschickt werden, erntete viel Lob und Preise (Auslands-"Oscar", Amnesty International Film Prize, European Film Award, Golden Globe), aber auch Kritik von israelischen Gruppen, die dem Film Verharmlosung von Terrorismus vorwarfen; Bandbriefe wurden seinerzeit im Vorfeld der Vorführung im Frankfurter Filmmuseum bzw. Deutschen Filminstitut versandt…

Mir war bekannt, dass die Bundeszentrale für Politische Bildung (bpb) ein Filmheft zu PARADISE NOW veröffentlicht hatte, und ich fragte mich, ob darin auf die Kritik an dem Film eingegangen und ob bzw. wie das Thema Terrorismus behandelt und bewertet wird.

Laut bpb bzw. ihrer Website sind die Filmhefte „[…] filmpädagogisches, themenorientiertes Begleitmaterial zu ausgewählten nationalen und internationalen Kinofilmen. Auf 16 bis 24 Seiten werden Inhalt, Figuren, Thema und Ästhetik des Films analysiert. Darüber hinaus gibt es ein detailliertes Sequenzprotokoll, Fragen, Materialien und Literaturhinweise.

Die Auswahl der Filme ist durchaus bemerkenswert, handelt sich doch dabei nicht nur um seltene oder schwere Kunst-Kost oder die üblich-verdächtigen „Filme für den Schulunterricht“, sondern neben den Filmen zu deutschen Geschichtsthemen (SOPHIE SCHOLL) oder dem Thema Immigration auch z.B. um die Unabomber-Doku DAS NETZ, die Komödie ALLES AUF ZUCKER oder den satirischen MUXMÄUSCHENSTILL.

Die bpb bietet darüber hinaus einen praktischen, dankenswerten Service: „Alle aktuellen und auch bereits vergriffene Hefte sind im PDF-Format zum Herunterladen verfügbar“, heißt es auf der bpb-Seite, auf der sich tatsächlich von (aktuell) DIE FREMDE von 2010 bis zum als Printausgabe vergriffenen, aber downloadbaren Publikation zu PROPAGANDA aus dem Jahr 2002 über 60 Filmhefte finden.

Nur: PARADISE NOW ist nicht darunter. Nicht mal ein Hinweis, dass es dieses Heft gegeben hat, findet sich da. PARADISE LOST?



Mittwoch. 28. Juli 2010, per E-Mail:

„Sehr geehrte Damen und Herren,

zurzeit promoviere ich zu dem Thema Terrorismus und Film. In diesem Zusammenhang bin ich auf das von der Bundeszentrale für politische Bildung im September 2005 herausgegebene Filmheft "Paradise Now" zum gleichnamigen Film von Hany Abu-Assad aufmerksam geworden.

Dieses Heft ist im Gegensatz zu den anderen Filmheften - die sowohl vor als auch nach der besagten Ausgabe veröffentlicht wurden - nicht zum Download auf der entsprechenden bpb-Homepage (http://www.bpb.de/publikationen/SNA3WX,0,0,Filmhefte.html) verfügbar; überhaupt kann ich keinen Hinweis auf das "Paradise Now"-Filmheft im Internetauftritt der Bundeszentrale finden.

Dürfte ich Sie bitten, mir dafür eine Erklärung zu geben? Spielen eventuell Kritiken wie der Vorwurf des Antizionismus, wie er hier (http://www.hagalil.com/archiv/2005/11/bpb.htm) geäußert wurde eine Rolle? Wer hat darüber entschieden, das Heft zurückzuziehen?

Vielen Dank im Voraus für Ihre Antwort!

Mit besten Grüßen
Bernd Zywietz"



Von Seiten des Fachbereichs Multimedia der BpB kam – nach einer erneuten Anfrage und einer entschuldigenden Erklärung für die verspätete Reaktion folgende Antwort am 30. August 2010:

„Sehr geehrter Herr Zywietz,

haben Sie vielen Dank für Ihre Anfrage und für Ihr Interesse an der Arbeit der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb. Die verspätete Antwort bitten wir zu entschuldigen, aufgrund der hohen Zahl von hier eingehenden Anfragen und aufgrund der Urlaubssituation war uns eine frühere Bearbeitung leider nicht möglich.

Das Filmheft zu dem Film "Paradise Now" ist bereits seit einigen Jahren vergriffen. Da der Film im Filmbildungsbereich kaum noch zum Einsatz kommt und es sich bei dem Heft um eine veraltete Publikation handelt, wurde auf eine Neuauflage verzichtet. Auch die pdf-Datei wurde, wie bei vielen veralteten Filmheften und anderen Publikationen der bpb üblich, von der Website der bpb genommen.

Wir bedauern sehr, dass wir Ihnen hier nicht weiterhelfen können und wünschen Ihnen viel Erfolg bei Ihrem Promotionsvorhaben.

Mit freundlichen Grüßen,

i.A.
*W**
Bundeszentrale für politische Bildung
Fachbereich Multimedia“




Das machte mich jetzt doch etwas stutzig... Am gleichen Tag schrieb ich zurück.

"Sehr geehrte Frau W***,

vielen Dank für Ihre Antwort. Nur einige kurze Rückfragen:

Inwiefern war / ist das Filmheft "Paradise Now" "veraltet" (und wann und wie ist dies von Ihrer Seite festgestellt worden - bzw. seit wann das Heft nicht mehr als pdf verfügbar ist)?

Was sind Ihre Kriterien, um zu entscheiden, dass und wann ein Film im Filmbildungsbereich kaum noch zum Einsatz kommt (sagen wir, im Gegensatz zu bspw. zu "Blue Eyed", dessen Filmheft drei Jahre älter ist als jenes zu "Paradise Now" und ebenso vergriffen, aber immer noch als pdf verfügbar ist)? Ich frage nur weil meines Wissens "Paradise Now" beispielsweise heute noch vom Bundesverband Jugend und Film e.V. (BJF) zu nichtgewerblichen öffentlichen Vorführungen in Jugendarbeit und Schule verliehen wird.

Und darf ich fragen, welche Filmheftpublikationen noch - weil veraltet oder aus welchen Gründen auch immer - von Ihrer Website genommen wurden?

Entschuldigen Sie bitte meine Neugier...

Mit besten Grüßen

Bernd Zywietz“




Die Antwort:

8. Sept. 2010:

"Sehr geehrter Herr Zywietz,

wir befinden uns derzeit in der Endredaktion mehrerer Publikationen und ich bitte Sie daher um Verständnis, dass ich meine Antwort kurz halte.

Die Entscheidung, wann eine Publikation der bpb veraltet ist wird üblicherweise durch die jeweiligen Produktverantwortlichen in Rücksprache mit den Vorgesetzten getroffen. Beim Vorhalten von Publikationen ist die bpb als öffentliche Behörde immer dazu angehalten, neben inhaltlichen Fragen auch Fragen der Wirtschaftlichkeit zu prüfen. Da das Produktportfolio der bpb sehr groß und vielseitig ist, wird von Fall zu Fall entschieden. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass ich Ihnen hier nicht im Detail die redaktionellen Entscheidungsschritte für einzelne Publikationen erläutern kann. Sie unterscheiden sich kaum von denen anderer Redaktionen.

Das Filmheft zu "Paradise Now" wurde vor ca. 3 Jahren aus dem Programm der bpb genommen. Es tut mir leid, aber da aufgrund der Größe unseres Angebotes die Einstellung von veralteten Publikationen nicht dokumentiert wird, kann ich Ihnen hier keine exaktere Antwort geben.

Das Produktformat "Filmheft" ist eine Handreichung für Multiplikatoren zur Vor- und Nachbereitung von Kinoveranstaltungen mit aktuellen Kinofilmen. Objektiv lässt sich feststellen, dass der Film aus dem Jahr 2004 im Filmbildungsbereich, wenn überhaupt, nur noch sehr eingeschränkt im Kino zum Einsatz kommt. Dies trifft leider für sehr viele Filme älteren Datums zu.

Der BJF ist eine von der bpb unabhängige Institution und entscheidet frei über sein DVD-Angebot.

Weitere Informationen hierzu bitte ich Sie eigenständig zu recherchieren.

Mit freundlichen Grüßen

i.A.
*W*****

Bundeszentrale für politische Bildung
Fachbereich Multimedia“





Da ich wirklich glaube, dass Frau W* wenig weitere Auskunft über den Verbleib des PARADISE-NOW-Filmhefts geben kann, möchte ich sie nicht weiter behelligen und bin ihr sehr dankbar für ihre Antwort, die trotz Zeitmangels recht umfangreich ausgefallen ist.

Ganz überzeugt bin ich allerdings immer noch nicht. Die Wirtschaftlichkeit dürfte bei einer pdf-Datei auf einem Webserver wohl kaum eine Rolle spielen – und gerade wenn das Heft vergriffen ist, liegt es nahe, es dort in elektronischer Form vorzuhalten, wie das ja auch mit anderen Ausgaben getan wird.

Inwiefern PARADISE NOW veraltet sein soll, ist mir immer noch ein Rätsel, zumindest ist mir nicht bekannt, dass der Nahostkonflikt beendet ist – und selbst wenn sich seit 2005 vieles getan hat, bleibt gerade PARADISE NOW schon allein als ein eindringliches Drama aktuell. Vor allem, wenn Selbstmordattentate immer noch „Thema“ sind.

Entsprechend schwer fällt es mir zu glauben, dass PARADISE NOW in der Filmbildung keine Rolle mehr spielt. Sicher, vielleicht nicht im Kino, aber dort sucht man die meisten der anderen Filme auch vergeblich. Auf DVD gibt es ihn natürlich, und dass der BJP, über den man PARADISE NOW für die Filmbildung auf diese Weise beziehen kann, eine von der bpb unabhängige Institution ist, war mir klar - jedoch eben auch eine Argument gegen die Behauptung, der Film spiele keine Rolle mehr (oder sei veralteter und belangloser geworden als all die anderen Filme, deren Hefte die bpb problemlos online vorrätig hält). In diesem Zusammenhang wüsste ich eben gerne, welche anderen Filmehefte wann und aus welchen Gründen „gelöscht“ wurden.

Zog man angesichts der Proteste gegen den Film (oder aus Angst davor) das Heft still und heimlich aus dem Verkehr? Fürchtete die bpb den Vorwurf, „pro-terroristisch“ zu sein? Weniger inhaltliche, fachliche als politische Bedenken?



Falls Sie dem Link in meiner ersten Mail oben nicht gefolgt sind: Er landet auf der haGil-Website, wo Ralf Balkes Text, der – laut dortigen Angaben – am 27.10.2005 in der Jüdischen Allgemeinen erschien, wiedergegeben ist. Der Beitrag attackiert hart neben dem bpb-Chef Thomas Krüger das Filmheft sowie dessen Experten/“Experten“ (sowohl die Verwendung als auch das Weglassen der Anführungszeichen erscheint mir hier schon ein Zuviel an Kommentar, angesichts der Schärfe des Textes). Und: „Tendenziös“, „Anti-zionistische PR“, „gravierende Fehler“ – das lässt man sich in Bonn und Berlin auch nicht gern vorwerfen.

Allerdings: Wenn das Heft vor „ca. 3 Jahren“ aus dem Programm genommen wurde, war es immerhin bis ca. 2007 verfügbar, als jeder Rummel des ohnehin nur in wenigen Kinos gestarteten PARADISE NOW weitgehend abgeebbt war. Da das Heft andererseits 2005 erschien, ist es erstaunlich schnell veraltet…

Doch vielleicht ist es das tatsächlich?

2007, also etwa in der Zeit, als das PARADISE-NOW-Filmheft von der Seite genommen wurde, kam es zum blutigen Kampf der Hamas und der Fatah im Gaza-Streifen. Davor, 2006, hatte die Terrororganisation Hamas zum Leidwesen oder gar Entsetzen Israels und des Westens die palästinensischen Parlamentswahlen gewonnen.

Das dichotome Palästinenser-vs.-Israeli-Konfliktbild, das auch der Film mit seiner bewusst ungenannten terroristischen Organisation zeichnet, war auch für die gemeine Weltöffentlichkeit zu einfach geworden.

Doch auch das Filmheft kann je nach Standpunkt als heikel oder ehrlich bezeichnet werden, mit seinem Verweis auf die misslichen Lebensumstände wie die Armut oder der Verteilungskampf ums Wasser, der einige Schatten auf die Weste der Israelis wirft. Deutlich wird zudem benannt: „Der Film zeigt Selbstmordattentäter vor der Tat als normale Menschen […]“ (S. 6) – was manchen, trotz dem relativistischen „vor der Tat“, schon ein Affront ist.

Der Film führt die Motivation von Said und Khaled auf die israelische Besatzung und damit verbundene Gefühle von Demütigung und Minderwertigkeit zurück. Auch israelische und palästinensische Psychologen/innen nennen Fatalismus, individuelles Leid, Perspektivlosigkeit als zentrale Antriebsmomente für Selbstmordattentäter – und den Wunsch, die andauernde Ohnmacht zuletzt noch in einen Moment der Allmacht zu verwandeln“ (S. 7).

Das ist natürlich auch erheblich unbequemer als die Psychopathologisierung der Täter oder die Erklärung der religiös-fanatischen Verblendung, die alle – bis auf die finsteren, feigen Hintermänner (die auch der Film, freilich sehr bissig und originell, entlarvt) – zu Opfern werden lässt.



Das Heft bzw. seine Autoren Claudia Hennen und Manfred Rüsel erlauben sich dahingehend auch eine „Frechheit“: Die „Exemplarische Sequenzanalyse“ (S. 12) beschreibt detailliert die Montagesequenz, in der die Attentäter rituell vorbereitet werden. „Sie hat Initiationscharakter: Protagonisten und Zuschauende werden in die religiösen Riten einer ihnen unbekannten Welt von ‚Märtyrern‘ eingeführt“ (ebd.). Die Szene, wie beschrieben, bei einer boshaften Nachstellung der typischen Gemälde des Letzten Abendmahls – mit den Khaled und Said als Doppel-„Jesus“. So treffend und gemein-gewitzt hat es sich Abu-Assad gleich mit allen drei Buchreligionen verscherzt – und das bpb-Filmheft quasi mitgemacht.

Wo jedoch ist die Grenze?

Balke kritisiert neben dem Film, der antisemitische Aussagen transportiert, „in denen Juden als Brunnen- und Spermavergifter etikettiert werden“ u.a. das Arbeitsblatt (S. 14) mit den Schüleraufgaben:

Wer von der Medienkompetenz, die Thomas Krüger wie im Vorwort erwähnt Schülern mit auf den Weg geben will, nun noch nicht genug hat, sollte einen Blick auf das Sahnehäubchen der Broschüre werfen, dem Arbeitsblatt. Zu Filmzitaten ‚Wer den Tod fürchtet, ist schon tot.‘, ‚Ohne Kampf keine Freiheit!‘ und ‚Widerstand kann viele Formen haben‘ werden Schüler
aufgefordert: ‚Sammeln Sie Argumente, die die Aussagen stärken bzw. entkräftigen und belegen Sie diese mit Beispielen.
‘“

Ja, darf man das, Schüler auffordern, sich in die Gedankenwelt von Selbstmordattentätern hineinzuversetzen?

Hier sind wir wieder bei dem Thema Angemessenheit, das ich vorletzte Woche in London auf der Konferenz „Screens of Terror“ anschnitt – und zu dem einige Überlegungen mehr als Not zu tun scheinen.

Aber das ist ein anderes Thema – und wenn Sie sich trotzdem ein Bild vom verschwundenen, veralteten, vergriffenen Filmheft „Paradise Now“ der bpb machen wollen: Das gibt es trotz allem HIER auf der Website des Deutschen Filminstitutes (DIF) als pdf-Download. (Aktualisierung, 13.03.2015: auch auf der DIF-Seite ist das Heft nicht länger verfügbar, dafür HIER

Hoffen wir, dass es noch lange so bleibt.


03.09.2012

Terrorismus im Fernsehen - erste Septemberwoche


Nicht nur ALLES FÜR MEINEN VATER ist in Sachen Terrorismus diese Woche im Fernsehen zu sehen.
Am Dienstag, den 4. September zeigt um 20.15 Uhr das ZDF die Dokumentation DEUTSCHLAND IN GEFAHR. Der Film des Terrorismusexperten des Senders Elmar Theveßen sowie von Christian Deick und Rainer Fromm zeigt vorgeblich „wie groß die Gefahr von Anschlägen in Deutschland tatsächlich ist, wie der Islamhass islamistischen Terrorgruppen immer mehr Zulauf beschert und wie der ‚graue Krieg‘ das westliche Wertesystem in Frage stellt“ (ZDF-Ankündigung). Klingt reißerisch und alarmistisch, und so manches, was Theveßen für das ZDF schon hergestellt hat, untermauert die Vermutung. Tenor: „Lässt sich der Siegeszug der Ideologie Al-Kaida stoppen?“



Rundheraus empfehlenswert ist dagegen, was das „Zweite“ am Freitag beschert – wenn auch zu nachtschlafender Zeit (also eigentlich schon am Samstag, den 8. – um 0.59 Uhr): Paul Greengrass FLUG 93 (Original: UNITED 93) rekonstruiert die Entführung des titelgebenden Fluges am 11. September 2001, zeigt dabei auch die Perspektive der Luftaufsicht und des Militärs – wobei sich manche Offizielle sich selbst spielen. Ein packender, tragischer Film, der zwar notgedrungen was die Ereignisse an Bord spekuliert, dabei aber auf die existierenden Informationen zurückgreift, ohne Effekt- (oder Affekt-)Hascherei auskommt und dabei auch von einer Klischierung der Terroristen möglichst absieht. Ein auch gedanklich faszinierendes Stück filmischer Umgangs mit „Geschichte“ und ihrer Aufarbeitung. Greengrass hat dabei Erfahrung mit emotional und politisch heiklen Stoffen: International bekannt wurde er durch sein multiperspektivisches Reenactment des „Blutsonntags“ 1972 in Londonderry, einem zentralen ideographischen Datum des Nordirlandkonflikts.

Im Anschluss an FLUG 93 präsentiert das ZDF (2.30 Uhr) den Dokumentarfilm EIN TAG IM SEPTEMBER von 1999. Kevin Macdonalds Oscar-prämiertes Werk befasst sich mit der Olympia-Geiselnahme – zum Jahrestag, der sich am 5. September zum 40. Mal jährt.

Fiktionales zu der terroristischen Aktion – genauer: seinen „Nachwehen“ – bietet die ARD am 7. September: Um 23.30 Uhr ist im Ersten Steven Spielbergs MÜNCHEN (MUNICH) von 2005 mit Eric Bana, Daniel Craig und Hans Zischler zu sehen: Ein Mossad-Team spürt die Hintermänner der Schwarzen-September-Anschlags auf, um – Auge und Auge – Vergeltung zu üben. Eine Kritik von mir zum Kinostart vor 7 Jahren finden Sie auf HIER auch Cinefacts. In Details denke ich heute vielleicht etwas anders über den Film, nicht aber bei der Grundeinschätzung.



zyw

29.08.2012

TV-Tipp: ALLES FÜR MEINEN VATER


Tarek (Shredi Jabarin) kommt nach Tel Aviv. Dort will sich der junge Palästinenser mit einer Sprengstoffweste auf einem Markt in die Luft sprengen. Tatsächlich drückt er den Knopf – doch nichts passiert. Der Zünder ist kaputt. So kommt Tarek im jüdischen Viertel für das Wochenende unter, macht ein Deal mit einem ehemaligen KZ-Insassen und Elektrohändler (Shlomo Vishinsky):  der besorgt ihm – natürlich ohne Wissen um dessen Sinn – das notwendige Ersatzteil, Tarek geht ihm dafür bei Renovierungsarbeiten zur Hand.



Es ist ein heikles Sujet, an das sich der israelische Film- und Fernsehregisseur Dror Zahavi, der in Potsdam-Babelsberg an der HFF „Konrad Wolf“ studierte, wagt. Palästinensischen Selbstmordterroristen in den Mittelpunkt zu stellen, hat schon im Falle von PARADISE NOW für Proteste gesorgt. Doch Zahavi gelingt eine einfühlsame leichte Geschichte, die zugleich nicht in allzu einfache Geleise der typischen Problemverarbeitung gerät. Tarek greift zum Sprengstoffgürtel, weil sein Vater die Familienehre beschmutzt hat. Um den Sohn als aufstrebenden Fußballer das Training und damit die Karriere zu ermöglichen, hat er sich mit den israelischen Soldaten am Grenzübergang eingelassen – und ist damit in Ungnade gefallen. Tarek will mit dem Anschlag die Schmach wieder reinwaschen. Diese Begründung klingt fast allzu simpel, das Motiv verhältnismäßig nichtig. Der Tod des Vaters, selbst erlittene Folterungen etc. – das sind die typischen filmfiktionalen Dimensionen, in denen tragische Suicide Bomber im Kino erklärt werden. Vielleicht haben Zahavi und sein Drehbuchautor Ido Dror geschludert, vielleicht ging es ihnen um eine einfache symbolische Konstellation. Tatsächlich bedienen sie einige moralische Besinnungskonventionen. Sein ehemaliger Trainer läuft in den zwei Tagen, die die filmische Erzählzeit umspannen, Tarek über den Weg, lässt noch mal kurz den früheren Ruhm des jungen Mannes aufscheinen. Doch Tarek interessiert das eigentlich nicht (mehr). Der Vater selbst spielt, bis auf die Rückblenden, selbst auch nur eine erstaunlich kleine Rolle, ist kaum zu sehen.

Falsche Ehrbegriffe, die Information, die den Sohn den Vater schließlich in anderem Licht sehen lässt, der Wert des Lebens und die Freundschaft, gar Liebe über die Volksgrenzen hinweg (so verliebt sich Tarek auf die von ihrer Familie verstoßene unangepasste Jüdin Keren, die wiederum von den Strenggläubigen des Viertels drangsaliert wird) sowie allerlei liebenswert verschrobenes Personal – all das bietet ALLES FÜR MEINEN VATER. Und doch kein kitschiges Happy End. ALLES FÜR MEINEN VATER ist anrührend, dabei unverbindlich in der politischen Ideologie und seiner melodramatischen Position. Zugleich ist alles, irgendwie, bei aller beherzten, lebensbejahenden,warm-wohlig gefilmten Oberfläche doppelbödig, ob bewusst oder nicht. Nervenkitzelmomente, gar auch ironische bereitet die perfide Gefahr, in der Tarek die ganze Zeit über schwebt: Die Weste kann er nicht ausziehen, und seine Gefährten, die ihn in der Stadt abgesetzt haben, haben ein perverse Versicherung der Aktion gegen Tareks Einknicken bzw. Versagen in der Hand: Per Handy können und wollen sie die Bombe fernzünden. Als es einmal soweit ist und Tarek gerade mit der jungen, natürlich unwissenden Keren unterwegs ist, rennt er davon, klettert gar auf einen Baum. Wäre die dramatische Musik, die Szene hätte etwas von einem Buster-Keaton-Film.


Darf man aus „sowas“ Spannung, vielleicht auch ein kleines Lachen schlagen? Sicher. Nur: Warum funktioniert das eigentlich – einen Selbstmordattentäter komödiantisch ums Leben fürchten zu lassen? Zahavi spielt hier wie auch an anderen Stellen durchaus sympathisch mit dem Aberwitz des Fanatismus, und weil alle, auch die strenggläubigen Juden, ein bisschen ihr Fett abbekommen, meschugge sind oder einfach: so wie sie sind, ist das auch nicht weiter schlimm. Bloß dass ALLES FÜR MEINEN VATER diesen Aberwitz nicht auf-, sondern (wenn auch mit dem letztmöglichen Fünkchen Humanismus, der möglich bleibt) am Ende bitterlich einlöst. Ein freundlich optimistischer, auch ein wenig schwarzhumoriger Traum ist dieser Film – einer, der sich letztlich zwingt oder gestattet, aufzuwachen. ALLES FÜR MEINEN: so wenig wie der Titel tatsächlich etwas über Tarek und sein Handeln aussagt, für den Film eine Rolle spielt, so viel weiß er um seine Grenzen, sein Unverständnis, seine Vergeblichkeit.


Die Unerklärlichkeit, das Unbedingt der Gewalt, sie mögen sich letztlich als ein faszinationsarme Banalität entpuppen. Ein kaputter Zünder kann den Nahostkonflikt und seine Dynamiken trotzdem nicht aushebeln. Vielleicht hätte er es in ALLES FÜR MEINEN VATER einmal, ausnahmsweise, als reine wunderbare Utopie, tun sollen. Dann wäre der Film vielleicht noch besser geworden.     

Übrigens Dror Zahavi hat bei in puncto filmisches Terrorismuserzählen Erfahrung: Er inszenierte auch den Fernsehfilm MÜNCHEN 72 – DAS ATTENTAT, der dieses Jahr bereits in der ARD lief.

ALLES FÜR MEINEN VATER (Sof Shavua B'Tel Aviv) können Sie sehen am
Mittwoch, 05.09.2012 um 20:15 Uhr im Ersten (ARD)



04.08.2012

Zu THE DARK KNIGHT RISES

Zu den ersten beiden Batman-Filmen Christopher Nolans habe ich mich HIER ausgelassen. Nun hat - erwartungsgemäß - der Abschluss der Trilogie THE DARK KNIGHT RISES die Kinokassen erobert. Fragt sich nur, ob er die Erwartungen, auch und gerade in Hinblick auf die politischen Bedrohungs- und Krisenszenarien, erfüllt.


Statt hier selbst eine Kritik zu liefern, möchte ich einfach auf die Kritik von Patrick Wellinski verweisen, dem ich mich anschließen möchte. THE DARK KNIGHT RISES ist unterhaltsames Popcorn-Kino mit eindrucksvollen Ideen und Bildern, bietet aber zu viel Handlung in zu wenig Erzählzeit gestopft. Auch rührt er arg am Pathos, findet keinen Rhythmus, vor allem aber: Ob Terrorismus oder Occupy-Protest greift der Film zeitaktuelle Konfrontationen und Probleme auf, führt sie sogar recht weit (das Regime "Banes" in der abgeschotteten Metropole, in der die reichen Bürger in Schauprozessen abgeurteilt werden). Doch bleibt das bloß überfrachtete Staffage, Behauptung; eine echtes Verhandeln findet nicht statt - und wird gar selbst vom Film und seinem (Bomben-)Plot ad absurdum geführt. Letztendlich geht es für die Guten wie für die Bösen um den ultimativen Knall (bzw. dessen Verhinderung), so dass alle ideologischen Fragen und Herausforderungen sich selbst erledigen. Brav und heroisch sind wieder die Cops, bedroht sind (allen Ernstes!) arme Waisenkinder. Dass Nolan dabei weitgehend ohne Ironie auszukommen glaubt, macht es nicht besser.

Gedanklich bietet THE DARK KNIGHT RISES, dem streckenweise etwas Lustloses im Durcherzählen anhaftet, denn auch bei allen Schauwerten und gelungenen Einfällen, Darstellern und Visualisierungen wenig mehr als eine besser erzählte und in (Schein-)Ambivalenz verpackten Staffel "24" - in der schließlich auch der arme Experte Jack Bauer für seine Land und dessen Menschen sich körperlich und seelisch aufopfert.

Die Kritik von Herrn Wellinski finden Sie als Beitrag auf Deutschlandradio Kultur HIER (MP3-Podcast des Beitrags).


28.07.2012

Buchtipp: Terrorismus als symbolisches Phänomen


In der Reihe „Bamberger Studien zu Literatur, Kultur und Medien“ ist neu der Sammelband
Die Gewalt der Zeichen. Terrorismus als symbolisches Phänomen, herausgegeben von Stefan Bronner und Hans-Joachim Schott, erschienen. Ausgangspunkt ist die interdisziplinäre Tagung zum Phänomen des symbolischen Terrorismus, die am 13. u. 14.11.2010 an der Fakultät für Geistes- und Kulturwissenschaften der Otto-Friedrich-Universität Bamberg stattfand.

Zum Inhalt heißt es:
„Seit der radikalen Änderung der weltpolitischen Lage durch das Selbstmordattentat islamistischer Terroristen auf die Supermacht U.S.A. am 11.9.01 versucht die Weltöffentlichkeit, dem Phänomen des Terrorismus durch die verschiedensten Erklärungsstrategien Herr zu werden. Man führt den Kampf der Kulturen oder Religionen an, verweist auf die Ausbeutung der Peripherie des kapitalistischen Weltsystems durch den Hegemon U.S.A. oder pathologisiert bzw. dämonisiert die Taten der Terroristen. Uns scheinen diese Erklärungsstrategien den Machtkonstellationen der postmodernen Gesellschaften nicht gerecht zu werden, da sie ein zentrales soziales Phänomen der vergangenen Jahrzehnte nicht beachten: das Unbehagen an der pluralistischen Gesellschaft und der konsensuell-repräsentativen Demokratie. Um dieses Unbehagen angemessen beschreiben zu können, wollen wir uns ihm aus einer zeichentheoretischen Perspektive nähern, die soziale Formationen nicht durch (kooperative) Arbeit determiniert sieht, sondern durch die Instanz des Codes. Für Jean Baudrillard ist die Wahl des Ziels der beiden Türme bedeutend, die sich wechselseitig reflektieren und das System nach allen Seiten hin abschließen. Mit ihnen wurde das neuralgische Zentrum des Systems getroffen, das sich auf einem binären Code gründet. Die Twintowers bedeuteten nicht nur das Ende jedweder originalen Referenz, sondern auch den Abschluss des Bezeichneten durch die Wiederholung des Zeichens. Der Code führt eine symbolische Verteilung der gesellschaftlichen Körper durch und zielt auf eine möglichst genaue Übereinstimmung der Gemeinschaft mit sich selbst gemäß eines arithmetischen und geometrischen Kalküls. Die integrative Kraft dieses auf dem Identitätsprinzip basierenden Systems scheint immer häufiger nicht mehr in der Lage zu sein, das negative Potential antagonistischer Strategien binden zu können, die in Form von zivilem Ungehorsam, Politik von Minoritäten oder terroristischen Akten die symbolische Ordnung der westlichen Gesellschaften unterhöhlen. In diesem Tagungsband diskutieren wir das Ausmaß der Krise der konsensuellen Demokratie und ihrer Institutionen.“

Beiträge des Bandes befassen sich mit „symboltheoretischen Ansätzen der Terrorforschung“ (Bronner, Schott), bieten eine „Textanalyse zu Terrorismus-Darstellungen in der deutschen Boulevardpresse“ (Christian Schütte, Siegen) oder „Sprachlicher Gewalt in der Boulevardpresse und ihre Folgen am Beispiel von Heinrich Bölls Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ (Karen Juliane Wiedmann, Bamberg). Martin Rehfeldt (Bamberg) widmet sich der Funktion von RAF-Bezügen in der Popkultur; Literatur von Brecht, Uwe Timm oder Bernhard Schlink wird beispielhaft, als Bezugsfolie oder Dekonstruktion behandelt.

Was den Bereich Film betrifft finden sich Texte zu „palästinensischen Selbstmordattentäter
im israelischen und palästinensischen Film“ (Anne Maximiliane Jäger-Gogoll, Marburg/Siegen) und „zur Darstellung der Roten Armee Fraktion im Film“ (Anja Schnabel, Paris).

Besonders schön: Den Reader der University of Bamberg Press als pdf-Datei gibt es kostenlos zum Download HIER.


zyw

23.07.2012

Ch. Nolans Batman: Die Schattenseiten des DARK KNIGHTS


Mit Spannung darf man den Start des neuen Batman-Films The Dark Knight Rises erwarten, der Abschluss von Christopher Nolans höchst erfolgreicher Trilogie, mit der der Comic-Superheld im Kino neu etabliert worden ist. Dabei kann man gerade den epischen Abschluss, der demnächst startet und in den USA nicht zuletzt deshalb Aufsehen erregt hat, weil ein Amokschütze in Aurora bei Denver die Filmpremiere für seine Bluttat auserkor, auch als Auseinandersetzung mit den Befindlichkeiten in den Post-9/11-USA betrachten – und vielleicht auch kritisieren. Teil 2, The Dark Knight, gibt dazu jedenfalls Anlass.

Aber der Reihe nach.

2005 machte Batman Begins Schluss mit dem popbunten Kinokaleidoskop eines Joel Schumacher, der es von Tim Burton die Batman-Reihe übernommen hatte, welche bis hin zum Trash an die unverbindliche, überdrehte und knallige TV-Serie der 1960er erinnerte. Mit Christian Bale in der Hauptrolle des Milliardärs Bruce Wayne, der nachts, traumatisiert durch den Raubmord an seinen Eltern, zum Fledermaus-Hüter des fiktiven Gotham City wird, kehrte der gebürtige Brite Nolan die schmutzigen Seiten des Superheldentums hervor. Einen wunderbaren Film legte er dabei vor, weil er zum einen die sogenannte Origin Story des Batmans samt seiner ersten Bewährung, Entwicklung und Selbstdefinition auch mit trockenem Witz zu zelebrieren verstand. Zum anderen bot Batman Begins eine gelungene Ästhetik, die den Comicvorlagen erstmals im Kino wirklich nahe kam oder zumindest das faszinierende Wesen der Batman-Figur herausschälte und auf den Punkt brachte: Trotz der technischen Gadgets war hier der „Dunkle Ritter“ vor allem ein Phantom, Schattengestalt und Schreckgespenst für die Gangster – ein Spukrächer, der aus dem Dunkeln auftaucht, selten ganz zu sehen ist, und sich gespensterhaft wieder in die Nacht verzieht. Die Actionszenen waren folegrichtig schnelle Schnittgewitter, die viele Zuschauer verwirrt und verärgert haben, die aber auch perfekt waren für die Interpretation: Gezeigt wurde nicht, was passierte, sondern wie es wirkte, erschien – und ein sich prügelnder Maskenmann mit Spitzohren kommt lässt sich ohnehin wenig cool in Szene setzen. Batman ist in Batman Begins jedenfalls noch eine Gestalt, die die eigenen inneren Dämonen des Bruce Wayne quasi nach außen gegen Gewalt und Korruption wenden, die Verbrecher terrorisiert.


Der erste der Nolan-Batman-Filme funktionierte aber auch inhaltlich so trefflich, weil die vigilantische Anmaßung des Helden noch einen ideologisch aparten Ausgleich erfuhr. So muss sich Batman nicht nur mit dem Mafiosi Falcone (Tom Wilkinson) auseinandersetzen, dessen Korruptionskrebs sich durch die Ordnungsinstitutionen gefressen hat, sondern auch mit seinem Kampfkunstlehrmeister Ducard / „Ra‘s Al Ghul“ (Liam Neeson). Der hat in Tibet aus Bruce Wayne jeden „Ninja“-Kämpfer gemacht, der er ist, um ihn als Teil seiner Bruderschaft zu gewinnen – eine, die sich als Quasi-Antikörper seit Jahrhunderten einer Art historischen Polit- und Gesellschaftshygiene verschrieben hat: Verrottete, dekadente Systeme und Reiche – hier die Metropole Gotham City – sollen niedergehen, im säubernden Chaos vergehen wie dereinst Rom. Das kann und will der Batman nicht zulassen, und so erfreute man sich an dem Comic-Pathos des Helden samt allen seinen Verwundungen. Es war die überhöhte Gebrochenheit eines Heroen, der für uns Normalsterbliche das Luxusleben ablegt (oder nur als Fassade vorspielte) und dafür das Kreuz des Ausputzers aufnimmt, noch ausbalanciert mit dem stets fragwürdigen immanenten Zug dieser Figur: die des paternalistischen Gutsbesitzers, der nicht nur mit seinem Geld Gutes tut, sondern unter körperlichem und technologischem Einsatz dem Schmutz in der Gosse die Leviten liest und (s)eine Ordnung durchsetzt.

 In Nolans zweiten Batman-Film, dem prätentiös zynischen The Dark Knight (2008), der diverse Box-Office-Rekorde knackte, ist das alles anders. Weniger ist Gotham City eine nächtliche dunkelbraune Phantasiemetropolis als ein trist-klinisches Chicago mit Glastürmen im harten, bleich-blauen Tageslicht, und Batman ist wieder (wie bei Burton und Schumacher) zu einem gepanzerten RoboCop geworden, der in seinem Dress – anders noch als in Batman Begins – nicht mal mehr den Kopf drehen kann. Vor allem aber: In The Dark Night schimmert – spricht man dem Film die zugeschriebene Gebrochenheit und Ambivalenz ab, die ihm eifrig beigemessen wurde – der Geist Frank Millers durch, den Nolan in Batman Begins noch gut unter Kontrolle hielt, obwohl der Film sich streckenweise an Millers Batman-Comic-Roman Batman: Year One (1987) orientierte.

Frank Miller ist jener Autor, der zusammen mit Alan Moore (Watchmen) die Gattung der (Superhelden)-Graphic-Novel quasi erfunden hat, zumindest aber die gezeichneten Überhelden in so etwas wie das Ernsthaft-Literarische überführte. Miller tat das mit Batman: The Dark Knight Returns (1986), in dem Batman nicht nur immer mehr zum mörderischen Psychopathen degeneriert, sondern als solcher leider von Miller auch bei aller Ironie gefeiert wird. Hier wie in anderen Miller-Stücken und ihren erfolgreichen Kino-Adaptionen – die Spartaner-„Nibelungen“-Posse 300 oder das ästhetisch faszinierende, inhaltlich widerwärtige Machwerk Sin City – wird eine Geisteshaltung sichtbar, der man faschistoide Züge zusprechen kann. Miller selbst hat zuletzt mit einem bestenfalls als „Camp“ abzutuenden Stück Holy Terror Aufmerksamkeit erregt (ein maskierter Held, dem der Verlag DC Comics dann doch nicht das Batman-Cape verleihen wollte, verprügelt sardonische arabische Terroristen). Auch jenseits des Zeichentischs ist Miller mit seinem abstrusen rechten Ansichten zur (und Beschimpfungen der) Occupy-Bewegung unangenehm aufgefallen – Schelte gab es dafürvon diversen Kollegen, darunter auch Watchmen- und V for Vendetta-Großmeister Alan Moore.     

Christopher Nolans The Dark Knight, nach dem Buch von Nolan und seinem Bruder Jonathan (mit an der Story arbeitet zudem David S. Goyer), wendet sich nun mehr oder minder deutlich dem Terrorismus als Bedrohung für die öffentlich Ordnung und Ethik zu. Fast allegorisch tritt dafür der Joker auf, gespielt von dem posthum dafür mit einem „Oscar“ bedachten Heath Ledger. Dieser Erzschurke hat nichts mehr mit jener Gestalt aus den klassischen Comics von Bob Kane oder der Verfilmung von Tim Burton (Batman von 1989) zu tun: Aus dem boshaften verspielten Harlekin mit genüsslich-verquerem Stil und teuflisch-kecken Dauergrinsen ist ein versiffter, vernarbter und sarkastischer Maniac geworden, ein Terrorist, der nur mehr irrlichternd und anarchisch herrscht, dabei zum Grenz- und Testfall (damit Rechtfertigung) für die provokanten Prozess jener „wehrhaften Demokratie“ wird, innerhalb deren Weltordnung nur mehr apokalyptisches Chaos oder rigorose – gar faschistoide – Obrigkeitsfaust ohne Rücksicht auf die Grundrechte Einzelner zu denken möglich scheinen.

Der Joker wird in The Dark Knight vorgestellt (oder behauptet) als zerrspiegelbildlicher Feind des vigilantischen Heroen Batman und – bemerkenswert! –  zugleich (oder in diesem Sinne?) als (sozialrevolutionär angehauchte) anarchistische Bedrohung: Er repräsentiert einen willkürlichen, Sinn negierenden und so wahnsinnigen wie (leider erzählerisch und ästhetisch nicht reflektierten) karnevalesken Terrorismus, vergleichbar jener Art, wie ihn Baudrillard Ende der 1970er beschrieb und der damals schon ein philosophisches Hirngespinst ohne Rückbindung an die Realität war [1].

Zum Höhepunkt des Films inszeniert der pseudo-clowneske Schurke ein sadistisches moralisches (und buchstäbliches) „Gefangenendilemma“ (ein Begriff aus der Entscheidungs- und Spieltheorie), das wie die diegetische Umformulierung des Story-Prinzips von Unthinkable anmutet: Auf zwei Fähren werden – hier – brave Bürger und – dort – eine Gruppe Häft­linge vor die Wahl gestellt, die jeweils anderen in die Luft zu jagen oder aber gemeinsam mit ihnen zu sterben. Während allerdings der Fledermausmann und Milliardär Wayne über eine unverzeihliche, aber angesichts der Krise als unumgänglich deklarierte Kurzschaltung und Komplettüberwachung sämtlicher Mobiltelefone dem Schuft auf die Spur kommt (die antiterroristische Grundrechtsverletzung als erfolgreiche Ultima Ratio), entscheiden sich die Geiseln in diesem ansonsten dahingehend pessimistischen Film für die Menschlichkeit: Selbst die Schwerstkriminellen werfen den Zünder für die Gegen-Fähre über Bord, der ihnen das Leben auf Kosten das der Anderen retten könnte.

Je nach Standpunkt kann man The Dark Knight als avanciertes Genre-Biegen begreifen oder als Demonstration der rigiden Antiterrorismus-Logik samt eines autoritären Ethos kritisieren, wobei der Typus des paternalistischen Comic-Helden und seiner narrativen Frames je nach Standpunkt originell demontiert oder lediglich inkonsistent überreizt wird. Batman und seine beiden staatlichen Mitstreiter – ein Staatsanwalt und ein Polizist – beschwören sich selbst als letzte Garanten und Wächter einer von Korruption und Angst bedrohten Zivilordnung in einer Stadt, deren Bewohner ohne die Helden den Verbrechern und Verrückten praktisch hilflos ausgeliefert und, als irrationale Masse, auch willkürlich manipulierbar erscheinen. So droht der Joker, regelmäßig einen beliebigen Bürger zu töten, bis Batmans Identität enthüllt werde – ehe der Bösewicht umschwenkt und den Tod eines Mannes erpresserisch einfordert, der dieses Wissen besitzt. Die Bürger zeigen daraufhin ihre hässliche Seite, vor der es sie zu schützen gilt, ehe die Fähren-Sequenz unvermittelt selbst die Schlimmsten unter ihnen in der Not als edelmütig präsentiert. Die Bevölkerung ist also nach Belieben oder Bedarf entmündigt oder verklärt, auf jeden Falls aber verblendungsbedürftig: Der strahlende Staatsanwalt Harvey Dent (Aaron Eckart) wird von Batman gescholten, weil er einem geistig minderbemittelten Gangster auf der Flucht die Pistole auf die Brust setzt – nicht, weil sich das nicht gehört, sondern weil das Image des Strahlemanns für die Moral der Einwohnermasse Gothams so wichtig ist. Als Harvey qua Verbrennung und Einflüsterungen des Jokers zum irren Schurken Two-Face verkommen ist, nimmt Batman die Schuld für dessen Morde auf sich.  


Das Irrationale des gemeinen Volkes oder sein Schutz (vor dem Joker; vor sich selbst), wahlweise aber auch die Reinigung der Stadt von verbrecherischem Unrat, rechtfertigt bedenkenlos spektakulär-coole extraordinary renditions, so wenn Batman einen chinesischen Mafia-Buchhalter aus einem Hongkonger Wolkenkratzer entführt – und letztendlich eben auch den Großen Lauschangriff. Selbstverständlich nur im Krisenfall und strikt begrenzt: Lediglich der moralisch einwand­freie Haustechniker Batmans, der Erfinder Lucius Fox (Morgan Freeman), hat Zugriffsbefugnis auf den Abhörmaschine und äußert, als integere moralische Instanz, auch die passenden freiheitsrechtlichen und demokratischen Bedenken. Nach dem Erfolg der Überwachungstechnik für „Jack-Bauer“-Batman wird die Technologie von Fox auch prompt und brav kaputt gemacht.

Mit der Figur des Jokers wiederum bricht der Film mit den Comic-Book-Konventionen (und denen ihrer vorherigen Kinoadaptionen), indem die Vorgeschichte des Schurken bzw. seine Entstehung (die Origin Story) als krimineller Irrer nicht nur verschwiegen, son­dern eine solche gar von ihm selbst sarkastisch in immer neuen Varianten einer tragischen Backstorywound zum Besten gegeben wird: Mal erklärt er für sein Narben-Grinsen einen brutalen Vater, mal sich selbst verantwortlich (aus Liebe zu einer Frau habe er sich verunstaltet). Freilich lässt sich das sowohl als Spiel mit dem genre-typischen Psychologismus interpretieren wie als Verabschiedung von wenigstens persönlichen legitimatorischen Motivationen: die Reduzierung des Gegners auf den grotesken Anderen, mehr aber noch seine Degradierung zur blanken Gefahr und funktionalem Rechtfertigungsgrund für das „Gute“ im Geiste einer verabsolutierenden Actionfilm- und Auge-um-Auge-Programmatik.


Wie sieht es aber nun mit dem dritten Teil, mit The Dark Knight Rises aus? Am 26. Juli läuft hierzulande der Film an, und wir werden sehen, ob es Nolan gelingt, nicht nur der „Legende“ den passenden Abschluss zu geben (in den USA, wo der Film bereits gestartet ist, ist man – erwartungsgemäß – euphorisch ob der Qualität des Streifens), sondern vielmehr, Batman Begins und The Dark Knight auch ideologisch vernünftig zu kombinieren bzw. sich aus der fragwürdige „Miller“-Sackgasse herauszumanövrieren und zu Ende zu bringen. Was bislang zu hören ist, lässt dahingehend jedenfalls hoffen. Allein schon, weil man nun im Herz des US-Traumas angekommen ist, nicht Batmans, sondern dem der USA nach dem 11. September wie in Folge der Börsen- und Bankenkrise: Gotham ist nun deutlich New York, das vom Schurken „Bane“ (Tom Hardy) und seiner bis zum Tod ergebenen Truppe von einer verheerenden Terrorserie überzogen wird – bis sich schließlich aus Bürgerkriegszuständen heraus ein neues Regime etabliert. Eines, das die Repräsentanten der alten, reichen und korrupte Elite zum Tode verurteilt oder ins Exil schickt. Terrorismus – so verspricht ein solcher Plot – wird damit nicht zum ziel- und inhaltslose Schreckgespenst vereinfacht, selbstzwecklos und zugleich funktional für eine rechtsgerichtete Simplifizierung, sondern mit allen Unbequemlichkeiten auch für das Comic-Erzählen weiterdekliniert. Vom Terrorismus zum Terror.

Wir dürfen gespannt sein.
   
zyw 




[1]       Baudrillard, Jean (1978): Unser Theater der Grausamkeit. In: Ders.: Kool Killer oder Der Aufstand der Zeichen. Berlin: Merve, S. 7–18.