01.02.2014

DER BLINDE FLECK (D 2013)


Daniel Harrichs DER BLINDER FLECK – TÄTER, ATTENTÄTER, EINZELTÄTER? ist kein gelungener Film, aber, zumindest und nicht zuletzt, ein durchaus wichtiger. Den Bogen in die Gegenwart schlägt der Film selbst, zu den NSU-Morden und dem Versagen (oder Schlimmeren) der verschiedenen Landes- und Bundessicherheitsbehörden. So blickt der Radio-Journalist Chaussy gegen Ende des Films auf die Gesichter der drei Rechtsradikalen auf dem Fernsehschirm seines Bayerischen Rundfunk, als Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe als Terrorbande entlarvt sind – eine Art „Hab ich’s doch gesagt“-Moment, Bestätigung und Grausen zugleich für die Hauptfigur, den findigen, unbeirrbaren Reporter. Doch was genau der Film hier sagen will, bleibt merkwürdig unzwingend. 

Während gerade über Beate Zschäpes Schuld in München verhandelt ist, ist dort auf dem Oktoberfest vor vierunddreißig Jahren eine Bombe explodiert. Dreizehn Menschen starben, über zweihundert wurden teils schwer verletzt – praktisch der schlimmste Anschlag in der Geschichte Nachkriegsdeutschlands. Wie kann es sein, dass dieses Ereignis so in Vergessenheit geraten ist? Dass, wenn von hiesigem Terrorismus die Rede ist, man fast ausschließlich an die linke RAF und Co. denkt oder an gegenwärtige militante Islamisten?

Auch Ulrich Harrich hat sich gewundert. Der junge Filmemacher, der hier seinen zweiten Langfilm vorlegt, zuvor schon für das Fernsehen gearbeitet hat, tat sich zusammen mit Chaussy, der seinerzeit und darüber hinaus Widersprüche und Ungereimtheiten entdeckten, nicht an die immer noch offizielle Version glauben mochte, jene, die von einem Einzeltäter ausgeht: Gundolf Köhler, der selbst seiner Bombe zum Opfer fiel und der Verbindungen zur rechtsradikalen, verbotenen „Wehrsportgruppe Hoffman“ hatte. Und vielleicht liegt darin ja das Geheimnis um die relative kollektive Vergessenheit der Terrortat. Die verdauliche Geschichte vom einzelnen Extremisten, eine Art Wahnsinniger – das ist schlimm und unheimlich, zugleich aber politisch halbwegs unproblematisch. Solche Spinner gab es immer, wird’s immer geben; ist halt nichts zu machen. So könnte man meinen und denken und wegerklären und tatsächlich: Wird es nicht wirklich „ernst“, gedanklich und emotional aufschreiens- und einschreitenswert, wenn aus der individuellen Verwirrtheit Ideologie wird, aus dem Spinner eine Bewegung (damit der Spinner zu einem, der sein Weltsicht kommunizieren, gar teilen kann, der Teil einer Gemeinschaft Gefährlicher)?


Ist „der deutsche Staat“ oder zumindest die Organe, die ihn schützen sollen, immer noch oder schon wieder „auf dem rechte Auge blind“? Der Film impliziert das ein wenig, wenn zu Beginn Chaussy mit seiner WG als „Linke“ von der Polizei behelligt, Neo-Faschisten hingegen als Männer, die halt mal im Wald Krieg spielen, verharmlost werden. Recht schematisch lässt der DER BLINDE FELCK auftreten, führt an und vor: das bayerische Urgestein und Schreckgespenst (und damaligen Kanzlerkandidaten) Franz Josef Strauß (nur von hinten gezeigt), die CSU-Regierungsnachsichtigkeit gegenüber der quasi viel zu spät verbotenen Wehrsportgruppe und eine kooperierende Boulevardpresse, die unter der Hand vorab mit Informationen gefüttert wird ... Als „Gegenspiel“ Chaussys tritt der von Heiner Lauterbach gespielte Dr. Hans Langemann, Staatsschutz-Chef des Freistaats auf, der aus diversen Gründen „seine“ Version zum Anschlag aufrechterhalten will. 

Zum einen aber taugt die attraktive Verbindung zwischen Oktoberfestattentat hier und der NSU dort nur bedingt, schaut man sich Art und Ausmaß der staatlichen Verfehlungen und Pannen an. Wie den „Döner-Morden“ begegnet wurde, ist, nicht zuletzt angesichts von Kompetenzrangeleien zwischen den einzelnen Diensten gelinde gesagt eine Schande, und auch was Anfang der 1980er in Bayern (und vielleicht auch Karlsruhe) ermittlungstechnisch, aufklärungsmäßig, politkalkulatorisch und sonstwie geschah, war auch alles andere als in Ordnung. Doch – immerhin – war schnell klar und öffentlich, wer der (vermutliche) Täter, war, ebenso sein Rechtsradikalismus und seine Verbindungen ins Neonazi-Milieu. Damit zusammengeht – zum anderen – eine ganz merkwürdige Unverhältnismäßig von der DER BLINDE FLECK. Es mag zynisch klingen, ist aber keineswegs so gemeint: Die Affäre, das Vertuschen, skandalöse Wegschauen und Nicht-Wissen-Wollen, wie sie der Film ausbreitet, darlegt, scheinen seiner Enthüllungs- und Empörungshaltung nicht angemessen, vor allem die Spannungshuberei als knackiger Mainstream-Politthriller (bei aller auch historischer, politischer und moralischer Bedeutung des enormen Engagements und Resultaten Chaussys auf der Suche nach der Wahrheit). Am Schluss (eine finale Texttafel verrät es) ist Schurke Langemann diskreditiert und verurteilt (wenn auch nicht wegen seiner Rolle in Sachen Anschlag), der „Held“ Chaussy wird, siehe NSU, irgendwie, traurig bestätigt. Wichtige Beweismittel – so erzählte es auch der reale BR-Journalist nach der Vorführung in Saarbrücken – wurden in den 1990ern in Karlsruhe vernichtet, eine Hand, die zu keinem der übrigen Opfer gehörte. Freilich: Warum nicht, wenn der Fall abgeschlossen war? Es drängt Chaussy nicht zur Verschwörungstheorie, aber der Film selbst bewegt sich sehr, vielleicht zu wohlig im Gestus des entsprechenden Genres. Gerade so, dass Schlampereien (oder die kühlen Verfahrensregularien) automatisch in den Ruch der Vertuschung geraten, jede andere Perspektive als die des Film-Chaussys (bei aller legitimer, gar gebotener weil kritischer Tendenz) bestenfalls als amoralische Ignoranz erscheint. 


Da hilft es eben nicht, dass man auch die Gegenseite (eben Langemann) als zweite Hauptfigur etabliert, die, ein Pluspunkt, durchaus hätte eindimensionaler angelegt und gespielt sein können. Nichtsdestotrotz ist dieser Langemann einer, der klar falsch handelt, vielleicht aus Überzeugung, aber in klarem Bewusstsein. Und es stimmt schlicht nicht, was Eckhard Fuhr in der WELT schrieb: „Der Film gewinnt ungemein dadurch, dass er der Versuchung widersteht, die Geschichte Ulrich Chaussys als Reporter-Heldenepos zu erzählen.“ Denn das genau tut DER BLINDE FLECK eben in gewisser Weise (selbst wenn dieser Held am Ende nicht triumphiert), vielleicht aus zu großer Nähe zu Buchautoren Chaussy heraus, dem, nochmals, für seine Arbeit großen Respekt gebührt und der auch in Saarbrücken als ein überlegter, sachlicher Mensch auftrat.

Der Kino-Chaussy, den Benno Führmann mit standardisierten Gesichtsausdrücken (engagiert, nachdenklich-stirnrunzelnd) präsentiert, ist mehr noch ein Heldentypus, den man nicht zuletzt in Hollywood unzählige Male gesehen hat. In Oliver Stones JFK etwa, aber auch im weniger politischen ZODIAC von David Fincher, in dem Jake Gyllenhaal den titelgebenden und historischen Serienkiller zu identifizieren trachtet. Wohl bekannt ist diese heroische Figur: Ein Passionierter, Getriebener, der es wissen will, nein, muss, der sich in die Akten frisst, nicht locker lässt, alles seiner Mission unterordnet. Entsprechend verleitet DER BLINDE FLECK zum Unterhaltungspolitthriller-Versatzstückabhaken: nächtliches Treffen mit dem geheimen Informanten – check. Verfolgung von Finstermännern – check. Die Gattin, ihn anfangs noch unterstützt, stellt Chaussy vor die „Ich oder der Fall!“-Wahl – check. Und verlässt ihn – check (Nicolette Krebitz allerdings verleiht hier dem Klischee Dimension).          

Handwerklich ist DER BLINDE FLECK solides Kino, nicht weniger, aber auch nicht mehr. Dabei ist Harrich, zugleich, hoch anzurechnen, dass er den Anschlag als solchen, dass er die Explosion nicht zeigt, sich nicht daran weidet. Die Besetzung des mit Langemann verbandelten Journalisten und des Bundesanwalt mit den Münchner TATORT-Kommissardarstellern Udo Wachtveitl und Miroslav Nemec wiederum tut dem Film nicht gut, zu ironisch-pointenhaft wirken sie. Großartig hingegen und wie stets ein Genuss ist Jörg Hartmann, der den Opferanwalt gibt (und sonst den wunderbar gestörten, zugleich unverbrauchte und unbayerische Hauptkommissar Peter Faber im Dortmunder TATORT).

Letztendlich jedoch funktioniert DER BLINDE FLECK als Film nicht, weil er in seiner „Skandalisierung“ zu groß daherkommt und zugleich nicht groß genug ist. Insbesondere in seiner typisierten oder generischen Form. Und wie aufmerksamkeits- und kritikwürdig sein Thema und die Realität dahinter auch unzweifelhaft sein mögen, sind wir doch längst und aktueller nachgerade schlimmer dimensionierte, gravierendere weil unaufbereitete und zugleich weithin bekannte, unversteckte Staatssauereien jenseits der CSU-Lande „gewöhnt“, mithin erregungstechnisch verwöhnt und womöglich abgestumpft: das globale Spitzelsystem von NSA u. Co., Menschenrechtsverletzungen im Namen des globalen Anti-Terror-Kriegs, Einmärsche in Länder aufgrund erfundener Massenvernichtungswaffen und, hierzulande, dann gerade die hinsichtlich der Grausamkeiten des NSU und dem fatalen Umgang damit. Bei aller Tragik, bei allem Recht auch auf diese Wahrheit und deren Bedeutung: Was – zynisch gefragt – schert es da noch, ob seinerzeit Gundolf Köhler alleine handelte oder nicht?

Nochmals: Natürlich schert es. DER BLINDE FLECK aber hat als Film – dramaturgisch, ästhetisch – wenig Anteil an dessen Verdeutlichung. Da hilft es auch nicht, dass DER BLINDE FLECK ein „Nachwuchsfilm“ ist bzw. als solcher nun auf dem Max Ophüls Preis 2014 im Wettbewerb lief. Denn ein Jahr zuvor hat in Saarbrücken Stefan Schaller mit FÜNF JAHRE LEBEN gezeigt, wie so etwas eben anders geht, auch als/im Nachwuchsfilm. Die kinoreife Behandlung der „Affäre“ Murat Kurnaz, jenem Deutschtürken, der in Guantanamo gefangen gehalten und gefoltert wurde, der letzten Endes einfach Terroristen sein sollte, dieser Film hat das Rad in Sachen filmischem Erzählen zwar ebenfalls nicht neu erfunden. Er belegt aber, wie gerade mit den klassischen Mitteln, über Figuren und ihre Konstellationen und Konflikte, die Dramaturgie, die emotionale Ansprache und die formalen Verfahren (Doku-Fiktion-) Kino ein Mehr bieten kann gegenüber Enthüllungsreportagen und Sachbüchern. FÜNF JAHRE LEBEN liefert einen ganz eigenen Beitrag, der auf einer anderen Ebene aufrüttelt, im besten Sinne empört und veranschaulicht, der mitfühlen lässt – legitime, wichtige Leistungen und Funktionen, weil Problemblicke unter die Oberfläche des Politischen.

So besehen ist DER BLINDE FLECK kein guter Film – und doch ein „guter“ (oder wichtiger). Denn der Film ist zwar nicht sonderlich geeignet, einer der nicht mehr als interessierend, vielleicht auch anrührend Informationen transportiert, die zum Skandal und seine Verfehlungen ein eigenes zusätzliches menschliches Drama benötigen (das des Helden Chaussy, das so ja nur mittelbar das der Wiesn-Bombe und der nachfolgenden „Affäre“ ist). Aber der Film hat – als Politikum – etwas bewirkt: Nachdem DER BLINDE FLECK nicht nur auf dem Münchner Filmfest lief, sondern auch im Bayerischen Landtag gezeigt wurde, wurden Akten endlich ungeschwärzt freigegeben. Dem Ruf nach Wiederaufnahme der Untersuchungen verleiht er enormen Nachdruck. Das ist an und für sich schon ein eigener Wert, der Filmkunstkritik relativiert.

Inwiefern (ein gewisses Maß an) Konventionalität für einen solchen Erfolg Voraussetzung ist, sei es, weil Beamte und Politiker selbst „affiziert“ werden, sei es, weil sie eine entsprechende Wirkung beim Volk annehmen (Stichwort Agenda-Setting und Third-Person-Effekt) und darauf „proaktiv“ reagieren, ist überlegenswert, jedoch auch ein eigenes Thema für sich.



DER BLINDE FLECK – TÄTER, ATTENTÄTER, EINZELTÄTER? läuft seit dem 23. Januar im Kino. Die aktualisierte Neuauflage von Ulrich Chaussys Buch, Oktoberfest – Das Attentat. Wie die Verdrängung des Rechtsterrors begann, ist dazu begleitend gerade im Verlag Ch. Links für 19,80 Euro erschienen.


zyw