02.11.2012

Verschwundenes PARADISE NOW


Wieso ist das Filmheft zum Selbstmorddrama von 2005 nicht mehr offiziell online zu bekommen?


Im Rahmen meiner Promotion habe ich mich auch mit Hany Abu-Assads palästinensisch-deutsch-französisch-niederländisch-israelischem Spielfilm PARADISE NOW (2005) beschäftigt. Die Geschichte zweier palästinensischer Jugendfreunde, alltägliche junge Männer in Nablus, die sich als Selbstmordattentäter gemeldet haben und nun losgeschickt werden, erntete viel Lob und Preise (Auslands-"Oscar", Amnesty International Film Prize, European Film Award, Golden Globe), aber auch Kritik von israelischen Gruppen, die dem Film Verharmlosung von Terrorismus vorwarfen; Bandbriefe wurden seinerzeit im Vorfeld der Vorführung im Frankfurter Filmmuseum bzw. Deutschen Filminstitut versandt…

Mir war bekannt, dass die Bundeszentrale für Politische Bildung (bpb) ein Filmheft zu PARADISE NOW veröffentlicht hatte, und ich fragte mich, ob darin auf die Kritik an dem Film eingegangen und ob bzw. wie das Thema Terrorismus behandelt und bewertet wird.

Laut bpb bzw. ihrer Website sind die Filmhefte „[…] filmpädagogisches, themenorientiertes Begleitmaterial zu ausgewählten nationalen und internationalen Kinofilmen. Auf 16 bis 24 Seiten werden Inhalt, Figuren, Thema und Ästhetik des Films analysiert. Darüber hinaus gibt es ein detailliertes Sequenzprotokoll, Fragen, Materialien und Literaturhinweise.

Die Auswahl der Filme ist durchaus bemerkenswert, handelt sich doch dabei nicht nur um seltene oder schwere Kunst-Kost oder die üblich-verdächtigen „Filme für den Schulunterricht“, sondern neben den Filmen zu deutschen Geschichtsthemen (SOPHIE SCHOLL) oder dem Thema Immigration auch z.B. um die Unabomber-Doku DAS NETZ, die Komödie ALLES AUF ZUCKER oder den satirischen MUXMÄUSCHENSTILL.

Die bpb bietet darüber hinaus einen praktischen, dankenswerten Service: „Alle aktuellen und auch bereits vergriffene Hefte sind im PDF-Format zum Herunterladen verfügbar“, heißt es auf der bpb-Seite, auf der sich tatsächlich von (aktuell) DIE FREMDE von 2010 bis zum als Printausgabe vergriffenen, aber downloadbaren Publikation zu PROPAGANDA aus dem Jahr 2002 über 60 Filmhefte finden.

Nur: PARADISE NOW ist nicht darunter. Nicht mal ein Hinweis, dass es dieses Heft gegeben hat, findet sich da. PARADISE LOST?



Mittwoch. 28. Juli 2010, per E-Mail:

„Sehr geehrte Damen und Herren,

zurzeit promoviere ich zu dem Thema Terrorismus und Film. In diesem Zusammenhang bin ich auf das von der Bundeszentrale für politische Bildung im September 2005 herausgegebene Filmheft "Paradise Now" zum gleichnamigen Film von Hany Abu-Assad aufmerksam geworden.

Dieses Heft ist im Gegensatz zu den anderen Filmheften - die sowohl vor als auch nach der besagten Ausgabe veröffentlicht wurden - nicht zum Download auf der entsprechenden bpb-Homepage (http://www.bpb.de/publikationen/SNA3WX,0,0,Filmhefte.html) verfügbar; überhaupt kann ich keinen Hinweis auf das "Paradise Now"-Filmheft im Internetauftritt der Bundeszentrale finden.

Dürfte ich Sie bitten, mir dafür eine Erklärung zu geben? Spielen eventuell Kritiken wie der Vorwurf des Antizionismus, wie er hier (http://www.hagalil.com/archiv/2005/11/bpb.htm) geäußert wurde eine Rolle? Wer hat darüber entschieden, das Heft zurückzuziehen?

Vielen Dank im Voraus für Ihre Antwort!

Mit besten Grüßen
Bernd Zywietz"



Von Seiten des Fachbereichs Multimedia der BpB kam – nach einer erneuten Anfrage und einer entschuldigenden Erklärung für die verspätete Reaktion folgende Antwort am 30. August 2010:

„Sehr geehrter Herr Zywietz,

haben Sie vielen Dank für Ihre Anfrage und für Ihr Interesse an der Arbeit der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb. Die verspätete Antwort bitten wir zu entschuldigen, aufgrund der hohen Zahl von hier eingehenden Anfragen und aufgrund der Urlaubssituation war uns eine frühere Bearbeitung leider nicht möglich.

Das Filmheft zu dem Film "Paradise Now" ist bereits seit einigen Jahren vergriffen. Da der Film im Filmbildungsbereich kaum noch zum Einsatz kommt und es sich bei dem Heft um eine veraltete Publikation handelt, wurde auf eine Neuauflage verzichtet. Auch die pdf-Datei wurde, wie bei vielen veralteten Filmheften und anderen Publikationen der bpb üblich, von der Website der bpb genommen.

Wir bedauern sehr, dass wir Ihnen hier nicht weiterhelfen können und wünschen Ihnen viel Erfolg bei Ihrem Promotionsvorhaben.

Mit freundlichen Grüßen,

i.A.
*W**
Bundeszentrale für politische Bildung
Fachbereich Multimedia“




Das machte mich jetzt doch etwas stutzig... Am gleichen Tag schrieb ich zurück.

"Sehr geehrte Frau W***,

vielen Dank für Ihre Antwort. Nur einige kurze Rückfragen:

Inwiefern war / ist das Filmheft "Paradise Now" "veraltet" (und wann und wie ist dies von Ihrer Seite festgestellt worden - bzw. seit wann das Heft nicht mehr als pdf verfügbar ist)?

Was sind Ihre Kriterien, um zu entscheiden, dass und wann ein Film im Filmbildungsbereich kaum noch zum Einsatz kommt (sagen wir, im Gegensatz zu bspw. zu "Blue Eyed", dessen Filmheft drei Jahre älter ist als jenes zu "Paradise Now" und ebenso vergriffen, aber immer noch als pdf verfügbar ist)? Ich frage nur weil meines Wissens "Paradise Now" beispielsweise heute noch vom Bundesverband Jugend und Film e.V. (BJF) zu nichtgewerblichen öffentlichen Vorführungen in Jugendarbeit und Schule verliehen wird.

Und darf ich fragen, welche Filmheftpublikationen noch - weil veraltet oder aus welchen Gründen auch immer - von Ihrer Website genommen wurden?

Entschuldigen Sie bitte meine Neugier...

Mit besten Grüßen

Bernd Zywietz“




Die Antwort:

8. Sept. 2010:

"Sehr geehrter Herr Zywietz,

wir befinden uns derzeit in der Endredaktion mehrerer Publikationen und ich bitte Sie daher um Verständnis, dass ich meine Antwort kurz halte.

Die Entscheidung, wann eine Publikation der bpb veraltet ist wird üblicherweise durch die jeweiligen Produktverantwortlichen in Rücksprache mit den Vorgesetzten getroffen. Beim Vorhalten von Publikationen ist die bpb als öffentliche Behörde immer dazu angehalten, neben inhaltlichen Fragen auch Fragen der Wirtschaftlichkeit zu prüfen. Da das Produktportfolio der bpb sehr groß und vielseitig ist, wird von Fall zu Fall entschieden. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass ich Ihnen hier nicht im Detail die redaktionellen Entscheidungsschritte für einzelne Publikationen erläutern kann. Sie unterscheiden sich kaum von denen anderer Redaktionen.

Das Filmheft zu "Paradise Now" wurde vor ca. 3 Jahren aus dem Programm der bpb genommen. Es tut mir leid, aber da aufgrund der Größe unseres Angebotes die Einstellung von veralteten Publikationen nicht dokumentiert wird, kann ich Ihnen hier keine exaktere Antwort geben.

Das Produktformat "Filmheft" ist eine Handreichung für Multiplikatoren zur Vor- und Nachbereitung von Kinoveranstaltungen mit aktuellen Kinofilmen. Objektiv lässt sich feststellen, dass der Film aus dem Jahr 2004 im Filmbildungsbereich, wenn überhaupt, nur noch sehr eingeschränkt im Kino zum Einsatz kommt. Dies trifft leider für sehr viele Filme älteren Datums zu.

Der BJF ist eine von der bpb unabhängige Institution und entscheidet frei über sein DVD-Angebot.

Weitere Informationen hierzu bitte ich Sie eigenständig zu recherchieren.

Mit freundlichen Grüßen

i.A.
*W*****

Bundeszentrale für politische Bildung
Fachbereich Multimedia“





Da ich wirklich glaube, dass Frau W* wenig weitere Auskunft über den Verbleib des PARADISE-NOW-Filmhefts geben kann, möchte ich sie nicht weiter behelligen und bin ihr sehr dankbar für ihre Antwort, die trotz Zeitmangels recht umfangreich ausgefallen ist.

Ganz überzeugt bin ich allerdings immer noch nicht. Die Wirtschaftlichkeit dürfte bei einer pdf-Datei auf einem Webserver wohl kaum eine Rolle spielen – und gerade wenn das Heft vergriffen ist, liegt es nahe, es dort in elektronischer Form vorzuhalten, wie das ja auch mit anderen Ausgaben getan wird.

Inwiefern PARADISE NOW veraltet sein soll, ist mir immer noch ein Rätsel, zumindest ist mir nicht bekannt, dass der Nahostkonflikt beendet ist – und selbst wenn sich seit 2005 vieles getan hat, bleibt gerade PARADISE NOW schon allein als ein eindringliches Drama aktuell. Vor allem, wenn Selbstmordattentate immer noch „Thema“ sind.

Entsprechend schwer fällt es mir zu glauben, dass PARADISE NOW in der Filmbildung keine Rolle mehr spielt. Sicher, vielleicht nicht im Kino, aber dort sucht man die meisten der anderen Filme auch vergeblich. Auf DVD gibt es ihn natürlich, und dass der BJP, über den man PARADISE NOW für die Filmbildung auf diese Weise beziehen kann, eine von der bpb unabhängige Institution ist, war mir klar - jedoch eben auch eine Argument gegen die Behauptung, der Film spiele keine Rolle mehr (oder sei veralteter und belangloser geworden als all die anderen Filme, deren Hefte die bpb problemlos online vorrätig hält). In diesem Zusammenhang wüsste ich eben gerne, welche anderen Filmehefte wann und aus welchen Gründen „gelöscht“ wurden.

Zog man angesichts der Proteste gegen den Film (oder aus Angst davor) das Heft still und heimlich aus dem Verkehr? Fürchtete die bpb den Vorwurf, „pro-terroristisch“ zu sein? Weniger inhaltliche, fachliche als politische Bedenken?



Falls Sie dem Link in meiner ersten Mail oben nicht gefolgt sind: Er landet auf der haGil-Website, wo Ralf Balkes Text, der – laut dortigen Angaben – am 27.10.2005 in der Jüdischen Allgemeinen erschien, wiedergegeben ist. Der Beitrag attackiert hart neben dem bpb-Chef Thomas Krüger das Filmheft sowie dessen Experten/“Experten“ (sowohl die Verwendung als auch das Weglassen der Anführungszeichen erscheint mir hier schon ein Zuviel an Kommentar, angesichts der Schärfe des Textes). Und: „Tendenziös“, „Anti-zionistische PR“, „gravierende Fehler“ – das lässt man sich in Bonn und Berlin auch nicht gern vorwerfen.

Allerdings: Wenn das Heft vor „ca. 3 Jahren“ aus dem Programm genommen wurde, war es immerhin bis ca. 2007 verfügbar, als jeder Rummel des ohnehin nur in wenigen Kinos gestarteten PARADISE NOW weitgehend abgeebbt war. Da das Heft andererseits 2005 erschien, ist es erstaunlich schnell veraltet…

Doch vielleicht ist es das tatsächlich?

2007, also etwa in der Zeit, als das PARADISE-NOW-Filmheft von der Seite genommen wurde, kam es zum blutigen Kampf der Hamas und der Fatah im Gaza-Streifen. Davor, 2006, hatte die Terrororganisation Hamas zum Leidwesen oder gar Entsetzen Israels und des Westens die palästinensischen Parlamentswahlen gewonnen.

Das dichotome Palästinenser-vs.-Israeli-Konfliktbild, das auch der Film mit seiner bewusst ungenannten terroristischen Organisation zeichnet, war auch für die gemeine Weltöffentlichkeit zu einfach geworden.

Doch auch das Filmheft kann je nach Standpunkt als heikel oder ehrlich bezeichnet werden, mit seinem Verweis auf die misslichen Lebensumstände wie die Armut oder der Verteilungskampf ums Wasser, der einige Schatten auf die Weste der Israelis wirft. Deutlich wird zudem benannt: „Der Film zeigt Selbstmordattentäter vor der Tat als normale Menschen […]“ (S. 6) – was manchen, trotz dem relativistischen „vor der Tat“, schon ein Affront ist.

Der Film führt die Motivation von Said und Khaled auf die israelische Besatzung und damit verbundene Gefühle von Demütigung und Minderwertigkeit zurück. Auch israelische und palästinensische Psychologen/innen nennen Fatalismus, individuelles Leid, Perspektivlosigkeit als zentrale Antriebsmomente für Selbstmordattentäter – und den Wunsch, die andauernde Ohnmacht zuletzt noch in einen Moment der Allmacht zu verwandeln“ (S. 7).

Das ist natürlich auch erheblich unbequemer als die Psychopathologisierung der Täter oder die Erklärung der religiös-fanatischen Verblendung, die alle – bis auf die finsteren, feigen Hintermänner (die auch der Film, freilich sehr bissig und originell, entlarvt) – zu Opfern werden lässt.



Das Heft bzw. seine Autoren Claudia Hennen und Manfred Rüsel erlauben sich dahingehend auch eine „Frechheit“: Die „Exemplarische Sequenzanalyse“ (S. 12) beschreibt detailliert die Montagesequenz, in der die Attentäter rituell vorbereitet werden. „Sie hat Initiationscharakter: Protagonisten und Zuschauende werden in die religiösen Riten einer ihnen unbekannten Welt von ‚Märtyrern‘ eingeführt“ (ebd.). Die Szene, wie beschrieben, bei einer boshaften Nachstellung der typischen Gemälde des Letzten Abendmahls – mit den Khaled und Said als Doppel-„Jesus“. So treffend und gemein-gewitzt hat es sich Abu-Assad gleich mit allen drei Buchreligionen verscherzt – und das bpb-Filmheft quasi mitgemacht.

Wo jedoch ist die Grenze?

Balke kritisiert neben dem Film, der antisemitische Aussagen transportiert, „in denen Juden als Brunnen- und Spermavergifter etikettiert werden“ u.a. das Arbeitsblatt (S. 14) mit den Schüleraufgaben:

Wer von der Medienkompetenz, die Thomas Krüger wie im Vorwort erwähnt Schülern mit auf den Weg geben will, nun noch nicht genug hat, sollte einen Blick auf das Sahnehäubchen der Broschüre werfen, dem Arbeitsblatt. Zu Filmzitaten ‚Wer den Tod fürchtet, ist schon tot.‘, ‚Ohne Kampf keine Freiheit!‘ und ‚Widerstand kann viele Formen haben‘ werden Schüler
aufgefordert: ‚Sammeln Sie Argumente, die die Aussagen stärken bzw. entkräftigen und belegen Sie diese mit Beispielen.
‘“

Ja, darf man das, Schüler auffordern, sich in die Gedankenwelt von Selbstmordattentätern hineinzuversetzen?

Hier sind wir wieder bei dem Thema Angemessenheit, das ich vorletzte Woche in London auf der Konferenz „Screens of Terror“ anschnitt – und zu dem einige Überlegungen mehr als Not zu tun scheinen.

Aber das ist ein anderes Thema – und wenn Sie sich trotzdem ein Bild vom verschwundenen, veralteten, vergriffenen Filmheft „Paradise Now“ der bpb machen wollen: Das gibt es trotz allem HIER auf der Website des Deutschen Filminstitutes (DIF) als pdf-Download. (Aktualisierung, 13.03.2015: auch auf der DIF-Seite ist das Heft nicht länger verfügbar, dafür HIER

Hoffen wir, dass es noch lange so bleibt.