23.02.2011

Fiktionalisierung der München-1972-Geiselnahme in Planung

Unter dem Arbeitstitel OLYMPIA 72 bereitet Regisseur und Event(-TV-)produzent Nico Hofmann (DER SANDMANN, DRESDEN) ein TV-Film (oder Mehrteiler?) über die Geiselnahme im Rahmen der Münchner Sommerolympiade 1972 vor.

Ein achtköpfiges Kommando der palästinensischen Terrorgruppe „Schwarzer September“ hatte die israelische Sportmannschaft in ihrer Unterkunft überfallen und die Freisetzung von über zweihundert Palästinensern aus israelischer Haft gefordert. Die Aktion wurde zum globalen Medienereignis und endet in einem blutigen Fiasko: Bei der missglückten Befreiung auf dem Flughafen Fürstenfeldbruck kamen alle Athleten und fünf der Terroristen ums Leben.

Regie bei der OLYMPIA 72-Produktion für das ZDF führt Dhror Zahavi. Dieser inszenierte bereits das Terrorismusdramas SOF SHAVUA B’TEL AVIV / ALLES FÜR MEINEN VATER (D/ISR 2008) um einen palästinensischen Selbstmordattentäter, der in einem jüdischen Viertel die Zeit verbringen muss, bis sein Zünderschalter repariert ist.

Nico Hofmann zu OLYMPIA 72 in Blickpunkt: Film (Nr. 7 / 2011, S. 60):

Wir haben von einigen Familienmitgliedern der Opfer die Rechte bekommen. Als zweite Ebene erzählen wir die deutsche Seite: die Hilflosigkeit, der Beginn des Terrorismus in Deutschland. Diese beiden Seiten sind in der Form noch nicht erzählt worden, und das ist der neue Approach und unterscheidet das Projekt sehr stark von Spielbergs ‚Munich’.“

Neben MUNICH, das eher die Jagd von Mossad-Agenten auf die Hintermänner der Terroraktion in den Mittelpunkt stellt, hatten bereits der Oscar-prämierte Dokumentarfilm ONE DAY ON SEPTEMBER (CH/D/UK 1999) von Kevin Mcdonald und der Fernsehfilm 21 HOUR AT MUNICH (USA 1976) die Geiselnahme und ihren Verlauf zum Gegenstand.

Teamworx-Chef Nico Hofmann selbst kann auf einige Erfahrung mit dem Thema Terrorismus verweisen: Er produzierte bereits die hoch gelobte Fiktionalisierung der Entführung der „Landshut“, das TV-Movie MOGADISCHU (D/F 2008) unter der Regie von Roland Sosu Richter.

(Einen Überblick über Produktionen zu München 1972 finden Sie bei uns HIER)

20.02.2011

BERLINALE 2011: WER WENN NICHT WIR (D 2011)

(Wieso) So und nicht anders?




Auf den 61. Internationalen Filmfestspielen in Berlin hat Andres Veiel gerade mit seinem Spielfilmdebüt WER WENN NICHT WIR den Albert-Bauer-Preis gewonnen. Verliehen wird diese Auszeichnung für die Eröffnung neuer Perspektiven der Filmkunst. Das ist fast schon ironisch, denn vor fast zehn Jahren, 2002, hat Christoph Roths für BAADER diesen Preis bekommen, ein anderer „RAF-Film“ (wie WER WENN NICHT WIR zu unrecht bei 3SAT bezeichnet wurde) – und einer, der diese Prämierung weitaus mehr zustand.

Zur Erinnerung: BAADER war eine bestechend unbekümmerte, wüste Collage- und Kolportage-Nummer über die RAF-Rebellenikone Andreas Baader, die zum Höhepunkt den RAF-Frontmann nicht in Frankfurt a. M. verhaften, sondern im Kugelhagel der Polizei sein hollywoodreifes Ende finden ließ, natürlich mit Zeitlupe. Und WER WENN NICHT WIR?

Andres Veiel hat bislang mit Dokumentarfilmen auf sich aufmerksam gemacht, vor allem dem Doppelporträt BLACK BOX BRD über Deutsche-Bank-Sprecher und RAF-Opfer Alfred Herrhausen und das in Bad Kleinen erschossene RAF-Mitglied Wolfgang Grams (andere Dokumentationen Veiels sind DER KICK oder DIE SPIELWÜTIGEN). Mit WER WENN NICHT WIR nimmt er sich einem Thema an, das, wie er meint, bislang in Sachen deutscher Linksterrorismus zu kurz gekommen ist, einem Wegabschnitt der Radikalisierung, die gerne vergessen wird – vor allem im Kino. Es ist die „Vorgeschichte“ der RAF, genauer: die von Bernward Vesper, Gudrun Ensslin und Andreas Baader, gemäß der Dreierbiographie von Gerhard Koenen von 2003 (Versper, Ensslin, Baader – Urszenen des deutschen Terrorismus).

Dass Versper nicht in den Untergrund ging und zur Gewalt griff, macht dieses Dreieck besonders spannend. Zu Recht verwies Veiel bei der Berlinale-Pressekonferenz auf das „Nichtvorherbestimmte“: der Stoff mit seinem Zeitabschnitt (oder umkehrt, die betrachtete Zeit und die Lebenswege der historischen und filmfiktionalen Figuren darin) zeigen die Wiedersprüche, die Alternativen, gibt Raum für das alternative „Was-wäre-wenn-gewesen“. Doch langt das? Ist sich der Film damit genug?

Bleiben wir zunächst beim Film selbst.

Ein Nest mit niedlichen Vogelkindern darin. Schnitt auf eine Katze, die heranschleicht. Während die Titel laufen, fallen dem Räuber eines der Tierbabies zum Opfer. Entsetztes Einatmen im Vorführsaal. Natur ist grausam. Bernward Vesper als Junge will die Katze retten, seine Katze. Versteckt sie. Denn sein Vater hat ihm perfide erklärt: nicht seine, Bernwards Schuld sei es, sondern die der Katze selbst, an sich, sie sei das Problem. Sie kommt aus dem Orient. Sei der Jude unter den Tieren.

Bernwards Vater ist Will Vesper, erfolgreicher Blut-und-Boden-Literat des Dritten Reichs, ein von Thomas Thieme als dicker, latent brutaler oder zumindest wenig sympathischer weil un- oder falschherzlicher Vater dargestellter Mensch. Er ist der Übervater, der, den Bernward hassen und vergöttern stets wird, dessen Aufmerksamkeit und Gunst er sich ersehnt, derweil ihn seine Weltsicht und Nazi-Verstrickungen bzw. -Texte abstoßen. August Diehl spielt den erwachsenen Vesper mit einem stetigen Zuviel und Zuwenig an Vater, der fragile, bleiche Diehl mit hohlen Wangen und schattigen Augen, übersensibel, immer zu lebensuntauglich, verfangen zwischen Dekadenz und Schwindsucht.

In Tübingen lernt er als Literaturstudent Gudrun Ensslin und ihre Freundin kennen, bandelt erst mit der Freundin an, dann wird eine ménage à trois draus; schließlich bleibt Vesper an Gudrun hängen und sie an ihm. Er verteidigt seinen Vater gegenüber seinem Professor, dem berühmten Walter Jens, baut mit Gudrun einen kleinen Heimverlag auf, um die Werke des – nun toten – Vaters neu zu publizieren, ein Aufgabe, die er praktisch auf dem Totenbett geerbt hat (ja, so deutlich meint der Film, werden zu müssen).



Lena Lauzemis (im echten Leben mit einem hinreißenden Berliner Dialekt gesegnet), auf der anderen Seite, spielt die junge Gudrun mit Verve und eindrücklich, stets auf der Kippe zwischen Labilität und Unbedingtheit; sie allein trägt praktisch den Film. Sie behauptet sich gegen ihren Vater, einem Pastor, der selbst in der Wehrmacht war und sie nun rügt, Vespers Literatur neuaufzulegen – derweil Bernward in der Kleinbürgerstube mit zu Besuch ist. Die Gedankenstrenge ist der Gudrun aber keine des Intellekts (allein). Die junge Frau ist eine versehrte Seele wie Bernward, und wendet sich dabei in einem ziellosen Akt der Gewissensstrenge auch gegen ihren eigenen Körper. Setzt sich nackt auf Glas, läuft grimmig durch die Straßen mit den Fingerknöcheln der geballten Faust an den Häuserfassaden entlang.

Es ist tatsächlich ein vielschichtiges Porträt, das Veiel von Gudrun Ensslin in WER WENN NICHT WIR zeichnet, eines, das auf die Formung und Herausforderungen der Zeit, ihrer Sitten und Konventionen zur Identität- und Charakterbildung mit einbezieht. Eines, das aber trotzdem nicht aufgeht (s.u.). Auf der Universität siezt man sich noch, der Kuppelparagraph kriminalisiert das Liebesleben von Unverheirateten. Doch immer mehr bricht das auf, auch die politischen Zeiten, Vietnam, Kennedy, die Black Panther künden vom Auf- und Umbruch; die Haare werden länger, kulturell und soziale Experimente erfolgen, Widerstand. Politisierung geschieht. Dazwischen das Auf und Ab in der Beziehung von Vesper und Ensslin, Verlobung, Affäre, Krise im Verlag, eine neue Ausrichtung, „linke“ Buchprojekte gegen das atomare Wettrüsten. Geraucht wird viel, getrunken immer mehr. Gudrun und Vesper ziehen nach Berlin, örtliches Synonym für Alternative und Freiheit; sie bekommen einen Sohn, Felix. Vesper heuert in einem engagierten Verlag an, Ensslin engagiert sich selbst, im Umfeld der Kommune 1. Und lernt dort Andreas Baader kennen.



Erst spät tritt dieser Teufelskerl auf, der exaltierte, virile und immerzu leicht herrisch-unzurechnungsfähige Tatmensch, ein Gegenentwurf zum blassen grübelnden welt- und ich-leidenden Vesper, der selbst immer mehr den Halt verliert. Im alten Kinderbett daheim liegt er und schmiert an die Wand; seine Mutter muss ihn im Schlafanzug aus dem kalten Badewannenwasser retten. Immer mehr fehlt ihm der Halt, der Verstand. Sein großes irrlichterndes Werk Die Reise wird abgelehnt. Gudrun kann er nicht halten, sie geht, verlässt ihn und das Kind. Brandstifterprozess, Verurteilung, Flucht, Untergrund – der Rest ist Geschichte.

WER WENN NICHT WER sollte zunächst ein Dokumentarfilm werden, doch Veiel hat ihn als Spielfilm erzählt, einen durchaus beachtlichen. Der Unterschied zwischen der Dokumentarfilmarbeit und der des fiktionalen Kinos? Die meiste Vorbereitung, so Veiel, sei bei ersterem die die Recherche (die auch hier beim Spielfilm wichtig war) und die Mühe, die Menschen vor die Kamera zu bekommen. Hier nun war es umgekehrt: Das Entwickeln und Erforschen der Figuren erfolgt, nachdem das Buch stand, zusammen mit den Schauspielern bei ausgeprägten Proben und vor der Kamera.

Allerdings gibt es auch große Schattenseiten, die den Film an sich und ihn in seinem Kontext als Film zur Vorgeschichte der RAF betreffen und manche, die Veiel als Veiel vorzuhalten sind. Sicher, es gibt einige Momente im Film, die sind schlicht großartig, weil sie in der Fiktion eine ganz besondere Wahrheit aufscheinen lassen und intensiv spürbar machen – so wenn Diehl als Vesper im Frankfurter Brandstifterprozess aussagt: Während er voller politischer Inbrunst seine Verlobte und ihre Tat verteidigt, ignoriert die ihn auf der Anklagebank, schäkert, lacht, flüstert mit Baader. Mit einem verletzten Seitenblick nimmt das Vesper zu Kenntnis; und schon während seiner Rede ist ihre (oder seine) Vergeblichkeit, die seiner Bemühung um Gudrun, aber auch das Ideal des Politisch-Moralischen schmerzlich bewusst geworden. Eine Konstellation, das Geschichtliche und Private, ein Blick, so deutlich kann die Fiktion werden. Der Kampf wird Vesper woanders stattfinden, ohne ihn, und er selbst wird Gudrun nicht mehr zurückgewinnen oder eine eigene Freiheit, einen eigenen Kampfplatz finden. Vesper, die Hauptfigur des Films, ist ein Vergeblicher, der zwischen seinen Schmerzpolen und den großen Auseinandersetzungen, die begonnen haben, innerlich und sozial zerrieben wird. WER WENN NICHT WIR wird mit ihm ein Film über eine Geschichte, die zu Ende ist, ehe die große Historie richtig anfängt.

Das große unmittelbare Manko des Films ist Baader, der erst in der siebzigsten Minute auftritt und von Alexander Fehling schwachbrüstig, lediglich gespielt wird. Als Studenten-Halodri in 13 SEMESTER oder als Zivi in einer polnischen KZ-Gedenkstätte in Robert Thalheims AM ENDE KOMMEN DIE TOURISTEN überzeugte er, hier jedoch wirkt es, als wäre ein Daily-Soap-Akteur engagiert worden, um Robert De Niro zu geben. Was Gudrun an diesem Lackel findet, der aus dem Nichts auftaucht, selbst keine Vorgeschichte mitbringt, wird nicht klar oder nur erahnbar. Er ist nur eine vernachlässigenswerte und vernachlässigte Nebenfigur, eine Chiffre, wie wir sie zu oft gesehen haben.



Generell aber bietet WER WENN NICHT WIR erschreckend wenig Neues, schon gar nicht in Sachen „neue Perspektiven der Filmkunst“ – und überhaupt. Schön, Ensslins und vor allem Vespers Vorgeschichte ist noch recht unterbeleuchtet, aber immerhin hat es schon DIE BLEIERNE ZEIT gegeben, und auch wenn darin die Ensslin-Schwestern Erwachsene sind, erfährt man doch mehr und erhält komplexere Einsichten in die Radikalisierungsprozesse gerade über die Brüche und das Unerklärte als in dem vordergründigen WER WENN NICHT WIR. Veiel, der schon lange, schon in Saarbrücken und auch in Berlin nicht müde wird, auf die sattsam bekannten Bilderbögen zu verweisen (und deren Verwendung zu kritisieren), die typischen Aufnahmen, die gerade DER BAADER MEINHOF KOMPLEX nutze und reinszenierte und die die RAF als Kausalfolge von Vietnam-Protest und Anti-Shah-Demo, von Benno Ohnesorg und Rudi Dutschke etabliert – Veiel setzt zwar früher an, gewinnt dabei aber entsprechend wenig, sondern gibt viel auf. Auch er kommt nicht umhin, den Brandstifterprozess zum x-ten Mal nachzustellen, nur, dass es statt Dutschke eben Langhans und Co. mit ihren Aktionen ist. Es mag blasphemisch klingen, vor allem für Veiel, der den Film kritisiert, doch letztendlich ist WER WENN NICHT WIR kaum mehr – zumindest nicht hinsichtlich seines Charakters als Historiendrama mit schönen Kostümen und originalgetreuer Kulisse – als Edels und Eichingers DER BAADER MEINHOF KOMPLEX; seine Vorgeschichte.

Sicher, die Figuren sind tiefer, viel- oder eher: mehrschichtiger, aber so viel nun auch nicht, insofern sie gedrittelt erscheinen: ein Teil gehört ihnen, als Charaktere mit Problemen und Dissonanzen. Ansonsten aber werden sie genutzt, um die Zeit zu spiegeln, sich und uns geläufige Meinungen, Ansichten und Positionen zu sagen und, drittens, die Vorgeschichte der RAF als Vorgeschichte der RAF zu etablieren, und sei es nur kontrastiv. Entsprechend ist WER WENN NICHT WIR weniger ein Gegenentwurf zu den altbekannten Geschichten zur RAF und ihrem Stil, sondern schlicht nur eine Ergänzung, die mit dem gleichen Produktionsaufwand und seiner Autoritätsbehauptung auftritt und auch hier durch die Geschichte huscht wie der BMK. Statt der „Fetzendramaturgie“ Eichingers, wird hier nur einem Psychologismus gehuldigt, der bei genauerem Hinsehen auch nur etablierte Rollenzuschreibungen und Erklärungsmodelle nachbetet, die zudem wenig elegant dargeboten werden: Seine Mutter erklärt Vesper, dass er quasi ein Kind Hitlers sei – der Vater hätte keinen Nachwuchs gewollt, aber weil sich der Führer Verstärkung für den Endsieg wünschte, habe man ihn als Dienst am Vaterland gezeugt. Sprach’s – Schnitt – und in der nächsten Einstellung ist der arme Vesper bereist halb dem Wahnsinn anheimgefallen.



Kaum besser und mehrdimensionaler ist das Generationsverhältnis bei den Ensslins, Gut und Böse hier wie dort. Das Vesper’sche Anwesen ist eine kalte, leere Villa, kaltbläulich dargeboten, und wie dabei irgendwas Ambivalentes wie Hassliebe, die doch so prägend für die RAFlinge und viele andere ihrer Zeit gewesen sein soll, bleibt ein Rätsel (auch was die Figur Bernward im Film betrifft). Die Stube der Ensslins wiederum ist eng, muffig und protestantisch steif. Ensslin, die Gescheiteste der Töchter, darf studieren, wirft ihrem Vater vor, es „besser gewusst“ und trotzdem bei den Nazis mitgemacht zu haben; sie ist von Anfang an rebellisch, und der Pastorenvater (Michael Wittenborn mit schmierigen Haarsträhnen) erscheint als gestrenge Duckmaus. Auch hier ist von irgendwelcher Herzenswärme und einem schwierigen Verhältnis weniger zu spüren als schlicht eine grundlegende Zerrüttung, die kaum eine Verpflichtung ahnen lässt. Gerade hier waren wir schlicht schon weiter, gar in der BAADER MEINHOF KOMPLEX, in dem Michael Gwisdeck den Pfarrer Ensslin mit enervierender Verständigkeit in seinen kurzen Auftritten gab oder auch und vor allem in DIE BLEIERNE ZEIT, in der der Vater weit sittenstrenger und Auflehnung provozierender erschien, der aber auch Alain Resnais NACHT UND NEBEL in der Schule vorführte. Und bei Margarete von Trotta war Gudrun, die spätere Terroristin, zunächst das brave Töchterlein…

Selbstzweifel und kritisches Gerechtigkeitsdenken, intellektuelle und ideologische Schärfe, verletztes Selbstwertgefühl und sexuelle Libertinage, das alles ergibt in WER WENN NICHT WIR kein Ganzes, leider schon gar nicht in den Figuren als widersprüchliche, aber ganze Charaktere. Eher erscheinen sie wie Frankenstein-Monstren, zusammengenäht aus biographischen und politischen, individuellen und zeitsymbolischen Einzelteilen – und nochmal ist die dabei die Schauspielleistung zu loben, allen voran die von Frau Lauzemis, die trotz aller Bewegungskräfte die Nähte halten lässt und so famos zu kaschieren versteht.

Angesichts dieser simplen Standardisierungen in Darstellungen und Kausalitäten bleibt die Präsentation der Zerrissenheit von Gudrun und Bernward eindrucksvoll und miterlebbar, aber un- oder nur fadenscheinig oder stereoptyp vermittelt, zumindest auf der persönlichen Ebene. Aber auch auf der zeitpolitischen und sozialen fallen Veiel nur die illustrativen Versatzstücke und inszenatorischen Standards ein, die den BAADER MEINHOF KOMPLEX quasi in die Vergangenheit hinein einfach nur verlängern: In WER WENN NICHT WIR sind es nicht die immer gleichen authentischen Film- und Fernsehdokumentaraufnahmen von Vietnambombern und Studentenunruhen, dafür aber eben Adenauer und die Kubakrise, ebenso illustrativ und musikalisch zeitgenössisch unterlegt. Auch hier ein lustiges Figurenratespiel (Walter Jens hier, und schau mal, der Teufel und der Langhans da!). Wenn gestritten wird, dann laut, und im Zorn müssen Türen geknallt oder etwas kaputt gemacht werden. Und als Ensslin und Vesper nach Berlin aufbrechen, steht sie auf dem Beifahrersitz, streckt den Oberkörper aus dem Schiebdach, recht die Hände nach oben und jauchzt. Hat man ja auch noch nie gesehen.

Die Geschichte des RAF-Films selbst hat Beispiele genug, wie es auch anders (und origineller) geht und gehen kann. Man denke allein schon an einen unterkühlten Petzold-Stil in Figurenführung und Inszenierung.

Nein, auf das typische Bilderinventar, dessen Einsatz Geschichtlichkeit behauptet, Authentizität garantiert und Faktizität festschreiben (oder hereinholen) will, fällt Veiel inhaltlich nicht zurück, aber perpetuieren tut er es doch, semantisch, grammatikalisch, was eigentlich noch schlimmer ist, weil er von ihm selbst kritisierte Gewissheitskino mit WER WENN NICHT WIR einfach nur auf bislang dahingehend wenig erschlossenes Erzählgebiet der RAF überträgt. Noch so viel mehr und so viel anderes sei über Gudrun Ensslin zu erzählen, erklärte Veiel, und der Film erzähle nicht vom Ende her. Das jedoch ist, wenn überhaupt, nur halb richtig, denn natürlich kann Veiel das, was er erzählt, nur erzählen und den Stil, den er nutzt, nur nutzen weil jeder im Publikum weiß, was aus Gudrun und Andreas geworden ist. Und für die, die es nicht tun, wird ein Texttafel am Ende eingeblendet, in dem es noch mal eine aberwitzige Kurzfassung des bundesdeutschen RAF-Dramas gibt, verkürzt natürlich auf die beiden „Helden“ Bonny Ensslin und Clyder Baader.



Vielleicht hat Veiel tatsächlich daran geglaubt, einen Film so drehen zu können, als gäbe es Ensslins und Baaders Extremistenkariere bis hin nach Stammheim und Vespers Freitod nicht, aber dieses bewusst Ausgeblendete (und dieses Ausblenden determiniert den Blick selbst ja schon) steckt WER WENN NICHT WIR von der ersten Sekunde an in den Knochen. Die Rollen und Begründungsmuster und allzu viel in Sachen Wertung und Bedeutungsgebung sind vom Start weg festgelegt.

Immer wieder ist Veiel in der Pressekonferenz auf die aktuelle Wirtschaftskrise (sein anstehendes Projektthema) zu sprechen gekommen. Ein Film, der auch die Gegenwart erklären helfe solle, sei WER WENN NICHT WIR – Protestbewegungen, Aufstände gegen Missstände, damals wie heute aktuell. Auf der Mikroebene, die der Figuren, ist WER WENN NICHT WIR freilich ein bestechendes Drama. Inhaltlich und erzählästhetisch (fast: generisch) vorgefasst wie er ist, bleibt der Film jedoch nur unzulänglich in Sachen Nachspüren und Erkunden der RAF und ihrer Vorgeschichte der Radikalisierung.

WER WENN NICHT WIR erzählt letztlich also erschreckend wenig Neues und schon gar nichts gegen den Strich (auch schon die Rabenmuttervorstellung der Ensslin ist bereits gestrig und als solcher längst im Kino durchgespielt und entsorgt – siehe ES KOMMT DER TAG). Veiel hat gutes Kino geschaffen, auch Filmkunstkino, aber als ein ästhetisches Instrument ist da der schlechte, schlimme BAADER MEINHOF KOMPLEX irgendwie witziger, gescheiter gescheitert, weil er sich als Actionkino mit seiner Stückwerkdramaturgie und der Faszinations-, Schock- und Oberflächenkunde in Sachen Seelensichtung ehrlich-banaler gibt.

Vielleich hätte es die RAF nicht (so) gegeben, wenn Gudrun Ensslin bei ihrem Felix und Bernward geblieben wäre. Vielleicht aber doch – und was dann? Wann kommt ein Film über die Terroristen, die keine geworden sind. Oder endlich mal die aus der zweiten Reihe, die nicht zu dem medialen „Dreiergestirn“ der RAF gehörten?

Bernd Zywietz

(Wieso) So und nicht anders? – WER WENN NICHT WIR (D 2011)


Auf den 61. Internationalen Filmfestspielen in Berlin hat Andres Veiel gerade mit seinem Spielfilmdebüt WER WENN NICHT WIR den Albert-Bauer-Preis gewonnen. Verliehen wird diese Auszeichnung für die Eröffnung neuer Perspektiven der Filmkunst. Das ist fast schon ironisch, denn vor fast zehn Jahren, 2002, hat Christoph Roths für BAADER diesen Preis bekommen, ein anderer „RAF-Film“ (wie WER WENN NICHT WIR zu unrecht bei 3SAT bezeichnet wurde) – und einer, der diese Prämierung weitaus mehr zustand.

Zur Erinnerung: BAADER war eine bestechend unbekümmerte, wüste Collage- und Kolportage-Nummer über die RAF-Rebellenikone Andreas Baader, die zum Höhepunkt den RAF-Frontmann nicht in Frankfurt a. M. verhaften, sondern im Kugelhagel der Polizei sein hollywoodreifes Ende finden ließ, natürlich mit Zeitlupe. Und WER WENN NICHT WIR?

Andres Veiel hat bislang mit Dokumentarfilmen auf sich aufmerksam gemacht, vor allem dem Doppelporträt BLACK BOX BRD über Deutsche-Bank-Sprecher und RAF-Opfer Alfred Herrhausen und das in Bad Kleinen erschossene RAF-Mitglied Wolfgang Grams (andere Dokumentationen Veiels sind DER KICK oder DIE SPIELWÜTIGEN). Mit WER WENN NICHT WIR nimmt er sich einem Thema an, das, wie er meint, bislang in Sachen deutscher Linksterrorismus zu kurz gekommen ist, einem Wegabschnitt der Radikalisierung, die gerne vergessen wird – vor allem im Kino. Es ist die „Vorgeschichte“ der RAF, genauer: die von Bernward Vesper, Gudrun Ensslin und Andreas Baader, gemäß der Dreierbiographie von Gerhard Koenen von 2003 (Versper, Ensslin, Baader – Urszenen des deutschen Terrorismus).

Dass Versper nicht in den Untergrund ging und zur Gewalt griff, macht dieses Dreieck besonders spannend. Zu Recht verwies Veiel bei der Berlinale-Pressekonferenz auf das „Nichtvorherbestimmte“: der Stoff mit seinem Zeitabschnitt (oder umkehrt, die betrachtete Zeit und die Lebenswege der historischen und filmfiktionalen Figuren darin) zeigen die Wiedersprüche, die Alternativen, gibt Raum für das alternative „Was-wäre-wenn-gewesen“. Doch langt das? Ist sich der Film damit genug?

Bleiben wir zunächst beim Film selbst.

Ein Nest mit niedlichen Vogelkindern darin. Schnitt auf eine Katze, die heranschleicht. Während die Titel laufen, fallen dem Räuber eines der Tierbabies zum Opfer. Entsetztes Einatmen im Vorführsaal. Natur ist grausam. Bernward Vesper als Junge will die Katze retten, seine Katze. Versteckt sie. Denn sein Vater hat ihm perfide erklärt: nicht seine, Bernwards Schuld sei es, sondern die der Katze selbst, an sich, sie sei das Problem. Sie kommt aus dem Orient. Sei der Jude unter den Tieren.

Bernwards Vater ist Will Vesper, erfolgreicher Blut-und-Boden-Literat des Dritten Reichs, ein von Thomas Thieme als dicker, latent brutaler oder zumindest wenig sympathischer weil un- oder falschherzlicher Vater dargestellter Mensch. Er ist der Übervater, der, den Bernward hassen und vergöttern stets wird, dessen Aufmerksamkeit und Gunst er sich ersehnt, derweil ihn seine Weltsicht und Nazi-Verstrickungen bzw. -Texte abstoßen. August Diehl spielt den erwachsenen Vesper mit einem stetigen Zuviel und Zuwenig an Vater, der fragile, bleiche Diehl mit hohlen Wangen und schattigen Augen, übersensibel, immer zu lebensuntauglich, verfangen zwischen Dekadenz und Schwindsucht.

In Tübingen lernt er als Literaturstudent Gudrun Ensslin und ihre Freundin kennen, bandelt erst mit der Freundin an, dann wird eine ménage à trois draus; schließlich bleibt Vesper an Gudrun hängen und sie an ihm. Er verteidigt seinen Vater gegenüber seinem Professor, dem berühmten Walter Jens, baut mit Gudrun einen kleinen Heimverlag auf, um die Werke des – nun toten – Vaters neu zu publizieren, ein Aufgabe, die er praktisch auf dem Totenbett geerbt hat (ja, so deutlich meint der Film, werden zu müssen).



Lena Lauzemis (im echten Leben mit einem hinreißenden Berliner Dialekt gesegnet), auf der anderen Seite, spielt die junge Gudrun mit Verve und eindrücklich, stets auf der Kippe zwischen Labilität und Unbedingtheit; sie allein trägt praktisch den Film. Sie behauptet sich gegen ihren Vater, einem Pastor, der selbst in der Wehrmacht war und sie nun rügt, Vespers Literatur neuaufzulegen – derweil Bernward in der Kleinbürgerstube mit zu Besuch ist. Die Gedankenstrenge ist der Gudrun aber keine des Intellekts (allein). Die junge Frau ist eine versehrte Seele wie Bernward, und wendet sich dabei in einem ziellosen Akt der Gewissensstrenge auch gegen ihren eigenen Körper. Setzt sich nackt auf Glas, läuft grimmig durch die Straßen mit den Fingerknöcheln der geballten Faust an den Häuserfassaden entlang.

Es ist tatsächlich ein vielschichtiges Porträt, das Veiel von Gudrun Ensslin in WER WENN NICHT WIR zeichnet, eines, das auf die Formung und Herausforderungen der Zeit, ihrer Sitten und Konventionen zur Identität- und Charakterbildung mit einbezieht. Eines, das aber trotzdem nicht aufgeht (s.u.). Auf der Universität siezt man sich noch, der Kuppelparagraph kriminalisiert das Liebesleben von Unverheirateten. Doch immer mehr bricht das auf, auch die politischen Zeiten, Vietnam, Kennedy, die Black Panther künden vom Auf- und Umbruch; die Haare werden länger, kulturell und soziale Experimente erfolgen, Widerstand. Politisierung geschieht. Dazwischen das Auf und Ab in der Beziehung von Vesper und Ensslin, Verlobung, Affäre, Krise im Verlag, eine neue Ausrichtung, „linke“ Buchprojekte gegen das atomare Wettrüsten. Geraucht wird viel, getrunken immer mehr. Gudrun und Vesper ziehen nach Berlin, örtliches Synonym für Alternative und Freiheit; sie bekommen einen Sohn, Felix. Vesper heuert in einem engagierten Verlag an, Ensslin engagiert sich selbst, im Umfeld der Kommune 1. Und lernt dort Andreas Baader kennen.



Erst spät tritt dieser Teufelskerl auf, der exaltierte, virile und immerzu leicht herrisch-unzurechnungsfähige Tatmensch, ein Gegenentwurf zum blassen grübelnden welt- und ich-leidenden Vesper, der selbst immer mehr den Halt verliert. Im alten Kinderbett daheim liegt er und schmiert an die Wand; seine Mutter muss ihn im Schlafanzug aus dem kalten Badewannenwasser retten. Immer mehr fehlt ihm der Halt, der Verstand. Sein großes irrlichterndes Werk Die Reise wird abgelehnt. Gudrun kann er nicht halten, sie geht, verlässt ihn und das Kind. Brandstifterprozess, Verurteilung, Flucht, Untergrund – der Rest ist Geschichte.

WER WENN NICHT WER sollte zunächst ein Dokumentarfilm werden, doch Veiel hat ihn als Spielfilm erzählt, einen durchaus beachtlichen. Der Unterschied zwischen der Dokumentarfilmarbeit und der des fiktionalen Kinos? Die meiste Vorbereitung, so Veiel, sei bei ersterem die die Recherche (die auch hier beim Spielfilm wichtig war) und die Mühe, die Menschen vor die Kamera zu bekommen. Hier nun war es umgekehrt: Das Entwickeln und Erforschen der Figuren erfolgt, nachdem das Buch stand, zusammen mit den Schauspielern bei ausgeprägten Proben und vor der Kamera.

Allerdings gibt es auch große Schattenseiten, die den Film an sich und ihn in seinem Kontext als Film zur Vorgeschichte der RAF betreffen und manche, die Veiel als Veiel vorzuhalten sind. Sicher, es gibt einige Momente im Film, die sind schlicht großartig, weil sie in der Fiktion eine ganz besondere Wahrheit aufscheinen lassen und intensiv spürbar machen – so wenn Diehl als Vesper im Frankfurter Brandstifterprozess aussagt: Während er voller politischer Inbrunst seine Verlobte und ihre Tat verteidigt, ignoriert die ihn auf der Anklagebank, schäkert, lacht, flüstert mit Baader. Mit einem verletzten Seitenblick nimmt das Vesper zu Kenntnis; und schon während seiner Rede ist ihre (oder seine) Vergeblichkeit, die seiner Bemühung um Gudrun, aber auch das Ideal des Politisch-Moralischen schmerzlich bewusst geworden. Eine Konstellation, das Geschichtliche und Private, ein Blick, so deutlich kann die Fiktion werden. Der Kampf wird Vesper woanders stattfinden, ohne ihn, und er selbst wird Gudrun nicht mehr zurückgewinnen oder eine eigene Freiheit, einen eigenen Kampfplatz finden. Vesper, die Hauptfigur des Films, ist ein Vergeblicher, der zwischen seinen Schmerzpolen und den großen Auseinandersetzungen, die begonnen haben, innerlich und sozial zerrieben wird. WER WENN NICHT WIR wird mit ihm ein Film über eine Geschichte, die zu Ende ist, ehe die große Historie richtig anfängt.

Das große unmittelbare Manko des Films ist Baader, der erst in der siebzigsten Minute auftritt und von Alexander Fehling schwachbrüstig, lediglich gespielt wird. Als Studenten-Halodri in 13 SEMESTER oder als Zivi in einer polnischen KZ-Gedenkstätte in Robert Thalheims AM ENDE KOMMEN DIE TOURISTEN überzeugte er, hier jedoch wirkt es, als wäre ein Daily-Soap-Akteur engagiert worden, um Robert De Niro zu geben. Was Gudrun an diesem Lackel findet, der aus dem Nichts auftaucht, selbst keine Vorgeschichte mitbringt, wird nicht klar oder nur erahnbar. Er ist nur eine vernachlässigenswerte und vernachlässigte Nebenfigur, eine Chiffre, wie wir sie zu oft gesehen haben.



Generell aber bietet WER WENN NICHT WIR erschreckend wenig Neues, schon gar nicht in Sachen „neue Perspektiven der Filmkunst“ – und überhaupt. Schön, Ensslins und vor allem Vespers Vorgeschichte ist noch recht unterbeleuchtet, aber immerhin hat es schon DIE BLEIERNE ZEIT gegeben, und auch wenn darin die Ensslin-Schwestern Erwachsene sind, erfährt man doch mehr und erhält komplexere Einsichten in die Radikalisierungsprozesse gerade über die Brüche und das Unerklärte als in dem vordergründigen WER WENN NICHT WIR. Veiel, der schon lange, schon in Saarbrücken und auch in Berlin nicht müde wird, auf die sattsam bekannten Bilderbögen zu verweisen (und deren Verwendung zu kritisieren), die typischen Aufnahmen, die gerade DER BAADER MEINHOF KOMPLEX nutze und reinszenierte und die die RAF als Kausalfolge von Vietnam-Protest und Anti-Shah-Demo, von Benno Ohnesorg und Rudi Dutschke etabliert – Veiel setzt zwar früher an, gewinnt dabei aber entsprechend wenig, sondern gibt viel auf. Auch er kommt nicht umhin, den Brandstifterprozess zum x-ten Mal nachzustellen, nur, dass es statt Dutschke eben Langhans und Co. mit ihren Aktionen ist. Es mag blasphemisch klingen, vor allem für Veiel, der den Film kritisiert, doch letztendlich ist WER WENN NICHT WIR kaum mehr – zumindest nicht hinsichtlich seines Charakters als Historiendrama mit schönen Kostümen und originalgetreuer Kulisse – als Edels und Eichingers DER BAADER MEINHOF KOMPLEX; seine Vorgeschichte.

Sicher, die Figuren sind tiefer, viel- oder eher: mehrschichtiger, aber so viel nun auch nicht, insofern sie gedrittelt erscheinen: ein Teil gehört ihnen, als Charaktere mit Problemen und Dissonanzen. Ansonsten aber werden sie genutzt, um die Zeit zu spiegeln, sich und uns geläufige Meinungen, Ansichten und Positionen zu sagen und, drittens, die Vorgeschichte der RAF als Vorgeschichte der RAF zu etablieren, und sei es nur kontrastiv. Entsprechend ist WER WENN NICHT WIR weniger ein Gegenentwurf zu den altbekannten Geschichten zur RAF und ihrem Stil, sondern schlicht nur eine Ergänzung, die mit dem gleichen Produktionsaufwand und seiner Autoritätsbehauptung auftritt und auch hier durch die Geschichte huscht wie der BMK. Statt der „Fetzendramaturgie“ Eichingers, wird hier nur einem Psychologismus gehuldigt, der bei genauerem Hinsehen auch nur etablierte Rollenzuschreibungen und Erklärungsmodelle nachbetet, die zudem wenig elegant dargeboten werden: Seine Mutter erklärt Vesper, dass er quasi ein Kind Hitlers sei – der Vater hätte keinen Nachwuchs gewollt, aber weil sich der Führer Verstärkung für den Endsieg wünschte, habe man ihn als Dienst am Vaterland gezeugt. Sprach’s – Schnitt – und in der nächsten Einstellung ist der arme Vesper bereist halb dem Wahnsinn anheimgefallen.



Kaum besser und mehrdimensionaler ist das Generationsverhältnis bei den Ensslins, Gut und Böse hier wie dort. Das Vesper’sche Anwesen ist eine kalte, leere Villa, kaltbläulich dargeboten, und wie dabei irgendwas Ambivalentes wie Hassliebe, die doch so prägend für die RAFlinge und viele andere ihrer Zeit gewesen sein soll, bleibt ein Rätsel (auch was die Figur Bernward im Film betrifft). Die Stube der Ensslins wiederum ist eng, muffig und protestantisch steif. Ensslin, die Gescheiteste der Töchter, darf studieren, wirft ihrem Vater vor, es „besser gewusst“ und trotzdem bei den Nazis mitgemacht zu haben; sie ist von Anfang an rebellisch, und der Pastorenvater (Michael Wittenborn mit schmierigen Haarsträhnen) erscheint als gestrenge Duckmaus. Auch hier ist von irgendwelcher Herzenswärme und einem schwierigen Verhältnis weniger zu spüren als schlicht eine grundlegende Zerrüttung, die kaum eine Verpflichtung ahnen lässt. Gerade hier waren wir schlicht schon weiter, gar in der BAADER MEINHOF KOMPLEX, in dem Michael Gwisdeck den Pfarrer Ensslin mit enervierender Verständigkeit in seinen kurzen Auftritten gab oder auch und vor allem in DIE BLEIERNE ZEIT, in der der Vater weit sittenstrenger und Auflehnung provozierender erschien, der aber auch Alain Resnais NACHT UND NEBEL in der Schule vorführte. Und bei Margarete von Trotta war Gudrun, die spätere Terroristin, zunächst das brave Töchterlein…

Selbstzweifel und kritisches Gerechtigkeitsdenken, intellektuelle und ideologische Schärfe, verletztes Selbstwertgefühl und sexuelle Libertinage, das alles ergibt in WER WENN NICHT WIR kein Ganzes, leider schon gar nicht in den Figuren als widersprüchliche, aber ganze Charaktere. Eher erscheinen sie wie Frankenstein-Monstren, zusammengenäht aus biographischen und politischen, individuellen und zeitsymbolischen Einzelteilen – und nochmal ist die dabei die Schauspielleistung zu loben, allen voran die von Frau Lauzemis, die trotz aller Bewegungskräfte die Nähte halten lässt und so famos zu kaschieren versteht.

Angesichts dieser simplen Standardisierungen in Darstellungen und Kausalitäten bleibt die Präsentation der Zerrissenheit von Gudrun und Bernward eindrucksvoll und miterlebbar, aber un- oder nur fadenscheinig oder stereoptyp vermittelt, zumindest auf der persönlichen Ebene. Aber auch auf der zeitpolitischen und sozialen fallen Veiel nur die illustrativen Versatzstücke und inszenatorischen Standards ein, die den BAADER MEINHOF KOMPLEX quasi in die Vergangenheit hinein einfach nur verlängern: In WER WENN NICHT WIR sind es nicht die immer gleichen authentischen Film- und Fernsehdokumentaraufnahmen von Vietnambombern und Studentenunruhen, dafür aber eben Adenauer und die Kubakrise, ebenso illustrativ und musikalisch zeitgenössisch unterlegt. Auch hier ein lustiges Figurenratespiel (Walter Jens hier, und schau mal, der Teufel und der Langhans da!). Wenn gestritten wird, dann laut, und im Zorn müssen Türen geknallt oder etwas kaputt gemacht werden. Und als Ensslin und Vesper nach Berlin aufbrechen, steht sie auf dem Beifahrersitz, streckt den Oberkörper aus dem Schiebdach, recht die Hände nach oben und jauchzt. Hat man ja auch noch nie gesehen.

Die Geschichte des RAF-Films selbst hat Beispiele genug, wie es auch anders (und origineller) geht und gehen kann. Man denke allein schon an einen unterkühlten Petzold-Stil in Figurenführung und Inszenierung.

Nein, auf das typische Bilderinventar, dessen Einsatz Geschichtlichkeit behauptet, Authentizität garantiert und Faktizität festschreiben (oder hereinholen) will, fällt Veiel inhaltlich nicht zurück, aber perpetuieren tut er es doch, semantisch, grammatikalisch, was eigentlich noch schlimmer ist, weil er von ihm selbst kritisierte Gewissheitskino mit WER WENN NICHT WIR einfach nur auf bislang dahingehend wenig erschlossenes Erzählgebiet der RAF überträgt. Noch so viel mehr und so viel anderes sei über Gudrun Ensslin zu erzählen, erklärte Veiel, und der Film erzähle nicht vom Ende her. Das jedoch ist, wenn überhaupt, nur halb richtig, denn natürlich kann Veiel das, was er erzählt, nur erzählen und den Stil, den er nutzt, nur nutzen weil jeder im Publikum weiß, was aus Gudrun und Andreas geworden ist. Und für die, die es nicht tun, wird ein Texttafel am Ende eingeblendet, in dem es noch mal eine aberwitzige Kurzfassung des bundesdeutschen RAF-Dramas gibt, verkürzt natürlich auf die beiden „Helden“ Bonny Ensslin und Clyder Baader.



Vielleicht hat Veiel tatsächlich daran geglaubt, einen Film so drehen zu können, als gäbe es Ensslins und Baaders Extremistenkariere bis hin nach Stammheim und Vespers Freitod nicht, aber dieses bewusst Ausgeblendete (und dieses Ausblenden determiniert den Blick selbst ja schon) steckt WER WENN NICHT WIR von der ersten Sekunde an in den Knochen. Die Rollen und Begründungsmuster und allzu viel in Sachen Wertung und Bedeutungsgebung sind vom Start weg festgelegt.

Immer wieder ist Veiel in der Pressekonferenz auf die aktuelle Wirtschaftskrise (sein anstehendes Projektthema) zu sprechen gekommen. Ein Film, der auch die Gegenwart erklären helfe solle, sei WER WENN NICHT WIR – Protestbewegungen, Aufstände gegen Missstände, damals wie heute aktuell. Auf der Mikroebene, die der Figuren, ist WER WENN NICHT WIR freilich ein bestechendes Drama. Inhaltlich und erzählästhetisch (fast: generisch) vorgefasst wie er ist, bleibt der Film jedoch nur unzulänglich in Sachen Nachspüren und Erkunden der RAF und ihrer Vorgeschichte der Radikalisierung.

WER WENN NICHT WIR erzählt letztlich also erschreckend wenig Neues und schon gar nichts gegen den Strich (auch schon die Rabenmuttervorstellung der Ensslin ist bereits gestrig und als solcher längst im Kino durchgespielt und entsorgt – siehe ES KOMMT DER TAG). Veiel hat gutes Kino geschaffen, auch Filmkunstkino, aber als ein ästhetisches Instrument ist da der schlechte, schlimme BAADER MEINHOF KOMPLEX irgendwie witziger, gescheiter gescheitert, weil er sich als Actionkino mit seiner Stückwerkdramaturgie und der Faszinations-, Schock- und Oberflächenkunde in Sachen Seelensichtung ehrlich-banaler gibt.

Vielleich hätte es die RAF nicht (so) gegeben, wenn Gudrun Ensslin bei ihrem Felix und Bernward geblieben wäre. Vielleicht aber doch – und was dann? Wann kommt ein Film über die Terroristen, die keine geworden sind. Oder endlich mal die aus der zweiten Reihe, die nicht zu dem medialen „Dreiergestirn“ der RAF gehörten?

Bernd Zywietz