24.07.2010
Ist Terrorismus Kunst?
Es soll keiner sagen, dass Kneipenabende keinen intellektuellen Mehrwert haben können: Nach einer überaus anregenden Debatte u.a. mit Dr. Andreas Rauscher und Max Migulenz bot sich mir eine Antwort darauf, wie Terrorismus Kunst (nicht) ist bzw. sein kann. Schließlich ist die entsprechende Frage besonders drängend, wenn man sich mit Film und Terrorismus auseinandersetzt, wobei die Frage nach dem Kunstcharakter von Film generell eine lange Tradition hat.
Um die Antwort – zugegebenermaßen bemüht pointiert – vorweg zu nehmen: Terrorismus ist keine Kunst; zugleich kann Terrorismus auch Kunst sein.
Karlheinz Stockhausen hatte mit seiner Äußerung zum 11. September auf einer Pressekonferenz – „Also was da geschehen ist, ist natürlich - jetzt müssen Sie alle Ihr Gehirn umstellen - das größte Kunstwerk, was es je gegeben hat …“ gewesen für Aufruhr gesorgt (HIER im Original nachzuhören). Dabei spielte Stockhausen auf die fanatische „Aufführung“ der Terroristen als Künstler an („konzentriert auf die eine Aufführung“) – und diese banalisierende, täterzentrierte Sichtweise hat die Kritik zurecht verdient.
Die Frage nach Terrorismus als Kunst reicht aber viel weiter. Insbesondere der linksextremistische Terrorismus weist aufgrund seiner jeweiligen Zeit eine heikle Nähe zu neuen revolutionären, dem avantgardistischen, die Wahrnehmung attackierenden und die Grenzen austestenden, gar sprengenden Kunstformen aus, sei es Mitte/Ende des 19. Jahrhunderts, sei es zu Zeiten der „68er“-Proteste und gesellschaftlichen Umbrüche (siehe dazu z.B. Hakemi 2006; Hecken 2006).
Für eine Grenzziehung zwischen Terrorismus und Kunst scheint der Verweis auf reale Tote ethisch schlüssig, argumentativ aber unbefriedigend. Ist Terrorismus ansonsten Kunst, auch wenn er keine Menschenleben fordert? Ist – so zynisch es klingt – die Ernsthaftigkeit der Grad, der zwischen Aktionskunst, Happening und politische Gewalt trennt, den Kunstgrad definiert zwischen Performance mit politischer Botschaft, dem verhinderten Puddingattentat der Kommune 1 auf den US-Vizepräsidenten Humphrey 1967, der Kaufhausbrandstiftung von Baader, Ensslin, Proll und Söhnlein im folgenden Jahr und der einem der tödlichen Attentate in dem darauf folgenden Jahrzehnt?
Ja, sie ist es.
Mehr aber noch ergibt sich eine schlüssige Unterscheidung auf einer ganz anderen Ebene – auf einer, auf der man keine Opfer zu Gewährspersonen machen muss (was Terroristen seit jeher für ihre Zwecke zur Genüge tun). Es ist lediglich danach fragen, was Kunst ist bzw. was man als Kunst verstehen kann. Oder eigentlich: dass und wie man es tut.
Man kann und muss dafür von dem Wesen der Tat, der Aktion, des Kunstwerks (mit und ohne distanzierende Anführungszeichen) absehen und sich dem Betrachter zuwenden. Kunst-Sein ist eine Zuschreibung. Kunst ist ein Wahrnehmungsmodus, ein Frame. Derselbe Gegenstand – eine Kaffetasse auf einen Frühstückstisch – ist keine Kunst (sondern ein Werkzeug) beim alltäglich Gebrauch und ist Kunst, wenn man es als solche betrachtet, z.B. wenn um den Küchentisch ein rotes Absperrseil angebracht ist, mit Messinghaltern, wie in einem Museum. Dieses Seil (alternativ auch: eine Vitrine) sind Marker, die die Tasse als Kunst ausweisen. Sie sind Deutungsvorgaben, Interpretationsrahmen; sie sind weil sie machen: Kunst.
Das klingt banal, hat aber weitreichende Konsequenzen.
Der Wahrnehmungsmodus „Kunst“ unterscheidet sich von dem anderer Funktionalitäten – wie dem praktischen, dem des Kaffeetrinkens; dem Wahrnehmen der Tasse als Wirtschaftsgut etc. Er entrückt den Gegenstand (die Situation, die Aufführung) und zwar in eine bestimmte Sphäre. Lentricchia und McAuliffe (2003) führen in diesem Sinne bereits Aristoteles für Stockhausens Standpunkt ins Feld und erklären, wie etwas Reales, Schmerzhaftes transzendiert oder zumindest transformiert wird, woraufhin es "genießbar" wird:
„[…] [W]hen an object is relocated from the place in the world where it has ist pain-giving being to the realm of an artistic medium, where it is ‚reproduced’ as an image, the pain-giving object becomes pleasureable because we are spared direct interaction with the thing itself“ (Lentricchia/McAuliffe 2003, S. 8).
Hier ist von der Macht der Repräsentation die Rede, doch dieselbe wirkt auch bei der der Präsentation – nicht zuletzt, weil für die meisten Menschen, die schließlich nur indirekt, medial vermittelt, dem konkreten Terrorismus (also dass, was am Terrorismus unmittelbar erfahr- und erlebbar ist) begegnen.
Die entrückte, distanzierte Wahrnehmung als (und in der modalen Sphäre der) „Kunst“ hat nach
Wuss (1999, S. 32 ff.), der sich dabei u.a. auf Jurij Lotman beruft, spezifische entwicklungsgeschichtliche Aufgaben. Kunstgenuss fördert den Ausbau der Fähigkeiten zur Antizipation, lehrt abstraktes Denken und Strukturieren und dabei Aneignung der Umwelt.
„Die Kunst aktiviert und trainiert offenbar diese Tätigkeit, kognitive Strukturen in der Art einer Vorahnung über einen eher ganzheitlichen Zugriff emotional zu erfassen. Sie spielt dabei genaugenommen mit verschiedenen Präferenzsystemen, legt zugleich unterschiedliche Wertungen an die Entscheidungen an“ (Wuss 1999, S. 37).
Kunsterleben als „spielerische“ Tätigkeit ist in dieser Hinsicht und in ihrem aller ersten Schritt gegenüber dem, was als Kunst rezipiert wird, eine funktionale Irrealisierung, ein Entwerten und – zwangsläufig – Entpolitisieren im kognitiven Verarbeitungsprozess. Das bedeutet nicht, dass Kunst(-werke) selbst unpolitisch oder unideologisch wären und wirken würden. Auch besagt der Modus der Rezeption als Kunst nichts darüber aus, ob es sich um „gute“ oder „schlechte“ Kunst handelt, d.h. welchen ästhetischen Wert sie hat und was aus daraus resultiert. Peter Geimers Kritik auf der Website der F.A.Z. an dem Interesse und Forschungsgedanken von Neurowissenschaftlern (darunter der Engländer Semiar Zeki) an Kunst ist dahingehend zumindest teilweise berechtigt: Laut Zeki lässt sich, so Geimers, selbst studierter Kunsthistoriker und Professor für Wissensforschung an der ETH Zürich, „demonstrieren, dass Empfindungen wie ‚Ich finde dieses Gemälde schön‘ oder ‚häßlich‘ bei Testpersonen von einer veränderten Tätigkeit im orbitofrontalen Cortex begleitet werden. Ob solche Experimente für die Erforschung des Gehirns von Bedeutung sind, müssen die Neurowissenschaftler selbst entscheiden. Zum besseren Verständnis von Kunst tragen sie jedenfalls nichts bei, denn es ist nicht einzusehen, was derart undifferenzierter Aussagen an Erkenntnisse über Bilder liefern sollen“.
Kunst als besondere Rezeptionsweise bleibt davon aber unberührt. Zwar sind die Grenzen hinsichtlich der Verarbeitung der Sinneseindrücke und der sich daraus ergebenden Inhalte nicht absolut, allein schon weil sie auf denselben Prinzipien beruhen, z.B. der Mustererkennung. Allein jedoch schon die Frage der Bewertung ist eine andere, da Bilder oder - sensorisch abstrakter: - fiktionale Erzählungen im sicheren Raum „Kunst“ keine Folgerungen nach den Tätern oder eine moralische Positionierung ihnen und ihrer Tat gegenüber einfordern.
Anders gesagt: Terrorismus als reale politische Gewalt provoziert eine Haltungsentscheidung im Spektrum von „richtig“ und „falsch“ und bezieht mich als soziales Wesen ein. Terrorismus als Kunst hingegen fragt nach einem ästhetischen „hässlich“ oder „schön“, „schlecht“ oder „gut“. Ästhetisieren bedeutet hier nicht entpolitisieren, sondern – zumindest im allerersten Moment der Rezeption – ent-sozialisieren.
Terrorismus als Kunst zu betrachten, Anschläge als Aufführung und Täter entweder als Künstler oder aber als Selbstinszenierungen, gar als Kunstfiguren (was Christoph Roths BAADER [D 2002] getan hat) ist eine Form der Distanzierung, auch der Bewältigung: Ein anderer Blickwinkel wird gewählt, das Bedrohliche und Schockierende neukontextualisiert und -perspektiviert. Das rote Museumsabsperrseil wird um den ausgebrannten Trümmer und die Leichenteile gespannt, die Maskierten mit ihren Handfeuerwaffen und ihre Entführungsopfer in einen Bilderrahmen eingefügt.
Gerade dadurch kam der verstörende Effekt der Aufnahmen der Anschläge des 11. September zustande: Weil die Katastrophenbilder als Hollywood-Kunst schon vorher da waren und nun die Kategorisierung, der „als-ob-Zustand“, der „Pretend mode“ (Strauss/Röckerrath 2003) mit der Realität des Geschehens kollidierte. Kurz: zwei sich ausschließende psychische Räume, die der Wirklichkeit und der der Unmöglichkeit mussten und konnten doch nicht zusammenfallen (vgl. ebd.). „Es entstand ein geographisches Chaos in der psychischen Karte, die traumatisierend wirkte“ (ebd.).
Bleibt die Frage, wie das perzeptive Framing von Terrorismus als Kunst zu bewerten ist. Vieles lässt sich ethisch und politisch gegen eine solche Form der gezielten wie automatischen, der bewussten und unbewussten Wahrnehmung einwenden, z.B. dass sie einem Engagement, der realen Lösung von Konflikten und Bekämpfung von Terrorismus (wahlweise auch: der Terroristen) die Unterstützung verweigern hilft. Auch die Würde der Opfer wird dadurch womöglich berührt, sie werden evt. zum zweiten Mal instrumentalisiert und zu Objekten degradiert.
Es lässt sich aber auch insofern etwas Gutes darin sehen, als es dem politischen Impetus der Terroristen selbst, die ihre Aktionen eine zweckhafte Bedeutung beimessen, entgegensteht und damit sich dem Terror ein Stückweit verweigert, indem er seine Urheber „missversteht“.
Literatur:
Geimers, Peter (2008): "Gehirne können keine Bilder sehen". F.A.Z Net:
http://www.faz.net/s/Rub268AB64801534CF288DF93BB89F2D797/Doc~EE0AC077E37C4498AA15553727090DF11~ATpl~Ecommon~Scontent.html
Hakemi, Sara (2006): Terrorismus und Avantgarde. In: Wolfgang Kraushaar (Hg.): Die RAF und der linke Terrorismus, Bd. 1. Hamburg: Hamburger Edition - HIS, S. 604-619.
Hecken, Thomas (2006): Avantgarde und Terrorismus. Rhetorik der Intensität und Programme der Revolte von den Futuristen bis zur RAF. Bielefeld: transcript.
Lentricchia, Frank / McAuliffe, Jody (2003): Crimes of Art and Terror. Chicago / London: University of Chicago Press.
Strauss, Laura Viviana / Röckerrath, Klaus (2003): Die Wirklichkeit sehen. Dekonstruktion und Re-Konstruktion von Narrativen angesichts der Bilder des 11. September. In: Auchter, Thomas et al. (Hg.): Der 11. September. Psychoanalytische, psychosoziale und psychohistorische Analysen von Terror und Trauma. Gießen: Psychosozial-Verlag, S. 114–131.
Wuss, Peter (1999): Filmanalyse und Psychologie. Strukturen des Films im Wahrnehmungsprozeß. 2. durchgesehene und erweiterte Aufl. Berlin: Edition Sigma.
Bernd Zywietz