03.02.2014

BUCH: "Jihadi Violence" - Systematische Analyse al-Qaida-Statements



Andreas Armborst:
Jihadi Violence: A study of al-Qaeda’s media.
(Schriftenreihe des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht – Kriminologische Forschungsberichte). Berlin: Duncker & Humblot.
ISBN: 978-3-428-14049-7, 266 Seiten, Erscheinungsjahr: 2013. € 35,-

Einen eindrucksvollen Lebenslauf weist Dr. Andreas Armborst auf: Neben einem Abschluss in Soziologie (Trier) und Kriminologie (Hamburg) kann er u.a. als Arbeits-, Lehr- und Forschungsstationen die Universität der Bundeswehr in Hamburg, das BKA, die Nebraska Crime Commission on Law Enforcement and Criminal Justice oder das Institut für Sicherheits- und Präventionsforschung der Uni Hamburg angeben. Seine hier vorgelegte, in Englisch verfasste und also auf eine internationale Rezeption abzielende Studie hat er am Freiburger Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht verfasst, an der dortigen International Max Planck Research School on Retaliation, Mediation and Punishment. Doch als Motto stellt er der Schrift Jihadi Violence kein Zitat renommierter Terrorismusexperten, politischer Denker oder sozialwissenschaftlicher Koryphäen, sondern von Terry Pratchett voran, weltbekanntem Autor humorig-satirischer Fantasy-Romane.

Pratchetts bizarr phantastische Scheibenwelt, von der das Gros dessen Bücher handelt, wird getragen von vier kosmischen Elefanten; bei Armborsts Untersuchung kann man quasi von fünf sprechen: fünf Teile, die als solche nur teilweise ausgewiesen, die Arbeit lesenswert machen, auch wenn sie dabei nicht völlig in einem heterogenen Ganzen aufgehen mögen und einige Kritikpunkte anzubringen sind.

Armborst befasst sich mit der Propaganda al-Qaidas, wobei der Titel falsche Erwartungen wecken könnte. Zum einen steht nicht (nur) der Aspekt der Gewalt im Vordergrund, zum anderen befasst sich der Autor in seiner quantitativ-qualitativen Analyse zwar in seinem Sampel nicht nur mit schriftsprachlichen Äußerungen Aiman al-Zawahirs, Osama bin Ladens und Abu Jahja al-Libis, sondern auch mit Video-Statements, doch werden diese nur transkribiert ausgewertet – die audiovisuellen Eigenheiten bleiben, wie so oft bei Medieninhaltsanalysen, außen vor [1]. Weniger die Medien werden also analysiert als deren Inhalte. Dafür hat Armborst 103 Statement-Verschriftlichungen zwischen 2001 und Dezember 2009 gesichtet sowie anschließend auf einen 86 Äußerungen umfassenden Korpus weiter reduziert, aus dem wiederum final für die Detailanalyse 31 Texte ausgewählt wurden.

Bevor sich Armborst in seinem Buch der empirischen Untersuchung widmet, präsentiert er – quasi als ersten, lohnenswerten „Elefanten“ – eine konzise und fundierte Einführung zur Abgrenzungsdefinition von Terrorismus (fokussiert auf dessen „kriminologische Anomalien“ und in schlüssiger Einordnung in ein Spektrum politischer Gewalt) sowie zum Konzept des Jihadismus insbesondere mit Blick auf den „Gotteskrieg“ als militärische Doktrin, die sich nicht in der gefährlich simplen, gleichsam wohligen diskursiven Differenzierung zwischen innerem und äußerem Jihad erschöpft.

Im zweiten, empirischen Teil (Kapitel 4, 5 und 6) entwickelt der Autor seine Methodik, stellt das Untersuchungsdesign vor, ehe er die Ergebnisse inhaltlich-interpretativ wie statistisch ausgewertet darlegt und mithin al-Qaidas Ideologie nach ihren diagnostischen soziopolitischen „Analysen“, den angebotenen und geforderten Zielen und vor allem der strategischen und religiösen Instrumentalität und Legitimität von Gewalt aufschlüsselt und die einzelnen Punkte untereinander in Beziehung setzt.

In Kapitel 7, eigentlich ein eigener Part, wird die propagierte Weltanschauung der AQ-Zentrale mit der irakischer Jihadisten-Gruppen verglichen, namentlich (bei Armborst) Ansar al-Sunna und al-Qaida im Irak (bzw. ISI – Islamischer Staat im Irak; heute eher: ISIS – Islamischer Staat im Irak und Syrien bzw. Irak und Levante). Dieser Teil / dieses Kapitel „Jihadism in Iraq“ überzeugt in Gänze im Gesamtkontext des Buches wenig, wirkt losgelöst, auch ein wenig abschweifend. Von den knapp 45 Seiten verwendet der Autor mehr als die Hälfte auf die Einführung in die Konfliktsituation und -faktoren im Zweistromland sowie die Taktiken von AQI und ASS, derweil der Ideologievergleich selbst nur relativen Erkenntnisgewinn bringt. Gleichwohl und unabhängig vom restlichen Buch sind diese Irak-„Ausflüge“ allein und vor allem in ihrer informativen Einführung in den Konflikt zu empfehlen.

Ein weiterer, unerwarteter Punkt mit hohem Eigenwert stellen die im Anhang aufgeführten Textsegmente aus al-Qaida-Botschaften dar, rund 40 Seiten „Originalstimmen“. Armborst nutzt sie als Beleg- und Anschauungsmaterial, allerdings stellen sie in ihrer Pointiertheit und durch die Ordnung des Autors ein kleines systematisches Zitatennachschlagebuch dar, das auch für eigene Arbeiten durchaus von vielfältigem Nutzen für den Leser sein kann.

Der „fünfte Elefant“ sozusagen ist sehr speziell, gleichwohl lobend herauszustellen. Es handelt sich dabei um die Darlegung des methodischen Vorgehens, das für all jene interessant sein dürfte, die selbst empirisch-quantitativ forschen wollen oder mit entsprechenden Analysen zu tun haben. Neben der Darlegung des methodischen Vorgehens und des Designs in Kapitel 4 reflektiert Armborst gewissenhaft in Anhang 1 das automatisierte „concept mapping“ mit dem Text-Mining-Tool Leximancer, das er zusammen mit der QDA-Software MAXQDA für die computergestützte Textanalyse verwendet – ein Fallbeispiel, wie Digital Humanities auch im Bereich der Terrorismus(propaganda)forschung und ähnlichen Bereichen vielversprechend einsetzbar ist.

Allerdings hinterlässt Jihadi Violence: A study of al-Qaeda’s media gerade hinsichtlich der theoretischen Konzeption ein ambivalentes Gefühl beim Lesen. Das meint weniger die generelle (und erneut hoch aktuelle Frage), inwiefern sich qualitative Inhalte sinnvoll in „maschinenlesbare“ Daten (z.B. Wortfrequenzen) übersetzen oder aus solchen heraus generell überzeugend oder zumindest gewinnbringend interpretieren lassen. Dies ist ein alte Grundsatzdebatte in der Auseinandersetzung mit menschlicher Kommunikation zwischen struktureller Regelverfasstheit, Symbolwissen und Kontextsensibilität. Armborst selbst befasst sich nur am Rande mit dem Problem, muss dies auch nicht, insofern er einen Methodenmix vorstellt, der eben nicht nur quantitativ ist, sondern (wie ja praktisch jede quantitative Studie überhaupt) auch – natürlich oder notgedrungen – qualitatives, wenn nicht gar intuitives Vorgehen beinhaltet.

So ist es eher tatsächlich die starke Fokussierung auf die Empirie, die die Lesefreundlichkeit des Buches im Hauptteil bisweilen einschränkt. Insbesondere die gedanklich spannende, gleichwohl komplexe Darstellung der thematischen Relationen (berechnet aufgrund etwa von Textüberlappungen) erscheint valide, aber (vor allem in Form der Tabelle 5) doch etwas zahlenspielerisch oder der reinen Forschungsprotokollarik geschuldet, zumal sowohl die Anzahl der untersuchten AQ-Texte generell (was sowohl legitim wie üblich ist) relativ klein ist, als auch die ausgewiesenen Prozentzahlen (und die Unterschiede zwischen ihnen) wenig aufschlussreich jenseits ihrer selbst sind. Zumal, wenn den Daten letztlich ohnehin ein vor allem „exploratives Codieren“ (S. 63) zugrunde liegt.

Darüber hinaus scheint gerade der Vorteil der Studie, seine empirische und methodische Absicherung, die sie von vergleichbaren Untersuchungen abhebt, gleichzeitig sein eminentester Nachteil zu sein – nicht in den Ergebnissen per se, sondern eben in deren Präsentation. Armborst begründet den Methodenmix aus Diskurs-, Frame- und Inhaltsanalyse überzeugend;  dieser wird als solcher freilich hernach kaum mehr deutlich. Auch das ist freilich nun kein unbekanntes Phänomen. Problematischer hingegen erscheinen die komplexen Strukturhierarchien, in die der Verfasser AQs Ideologie textbezogen aufschlüsselt, und denen einmal mehr kluge Ideen zugrunde liegen. Eine solche ist der Rückgriff auf die Social-Movement-Analysen Snow, Benfords [2] u.a. unter Verwendung des Framing-Konzepts. Die grundlegende Idee dahinter: Soziale Bewegungen (als deren extremer Teil auch schließlich terroristische Organisationen gedacht werden können) haben u.a. zur Gewinnung und zum Erhalt von Sympathien und Unterstützungen bestimmte kommunikative Framing-Aufgaben zu erfüllen, quasi die Propagierung von Sichtweisen und Interpretationsmustern [3].

Armborst entwirft davon ausgehend eine Aufschlüsselung von AQs Ideologie in vier Kategorien. Diese sind – in absteigender Ordnung –: frames, narratives, themes und issues. Die vier Frames umfassen dabei „social-political diagnosis“, „goals“, „jihadi doctrines & strategies“, „reference system“ und schlüsseln sich entsprechend weiter auf; der diagnostische Frame etwa in die Narrative „apostasy and collaboration“, „global conflict“, „secular governance“. Hierbei stellen sich allerdings Fragen und Schwierigkeiten, die teilweise begrifflicher Natur sind.

So bezeichnet der Autor „frames“ als eine „analytical unit in an act of communication“ (S. 59) bzw. „nothing other than deductive codes and categories (albeit with a defined theoretical underpinning) identified in qualitative content analysis“ (S. 61), konzipiert sie aber theoretisch selbst darüber hinaus nicht weiter (zumindest nicht ausführlich), was nicht zuletzt aufgrund der transdisziplinären Begriffsunschärfe heikel ist. Was genau ein „Frame“ also gerade als Oberkategorie meint, bleibt unklar auch deshalb, weil man – im Sinne von „Interpretationsmustern“ – oftmals bestimmte Themen (oder Genres) als gegeben voraussetzt, die dann eben „geframed“ (bzw. mit dem Muster belegt oder in eben jenes eingepasst) werden. Robert Entmanns Gliederung der Leistung oder Funktion eines Frames (Diagnose, Prognose etc.) sind hier in einzelne Frames aufgeschlüsselt – wobei Frames hier ebenso wie bisweilen die nachgeordneten Kategorien Unterschiedliches zu bezeichnen scheinen: Während der diagnostische und prognostische Frame Aussagen (oder Aussagesysteme) fasst, bezieht sich der „reference frame“ auf als Ressource vorhandene Medieninhalte, die zur propagandistischen Situationsbeschreibung und der Kritik am Gegner herangezogen werden.

Ein andere diskussionswürdige Kategorie in Armborsts Systematik ist die der „narrative“ – ein ebenfalls, wenn nicht noch schwammigerer disziplin- und bedeutungsfeldübergreifender Terminus, der als solcher von Armborst nicht nur nicht definiert wird, sondern so divergentes Inhaltlich-Thematisches wie „secular governance“, „goals & objectives“ oder „appeals & advices“ umfasst, darüber hinaus aber auch Modales wie „humor, sarcasm & irony“.
   
Eine sich ergebene, generell spannende und drängende Frage, die der Autor leider nicht aufgreift, ist die nach dem Verhältnis von Erzählungen und Frames. Etwa dahingehend, ob Narrative nicht eine bestimmte Form von Frames bzw. des (prozesshaften) Framings darstellen. Und nicht zuletzt lassen sich die konkreten Einordnungen in die entworfenen Kategorien diskutieren. Wäre „grievance“ nicht statt als „theme“ in den drei „narratives“ des soziopolitischen Diagnoserahmens schlüssiger und gewinnbringender als eigenständige „narrative“ angelegt? 

Diese Punkte sind hier allerdings gar nicht so sehr gegen Armbrosts Systematik und seine Arbeit selbst so kritisch gerichtet wie es den Anschein haben mag. Denn die Terminologiefrage ist eine des Details, in erster Linie vor allem Ergebnis der analytischen Operationalisierung sowie die Systematik und Systematisierung – das glaubt man gerne – Folge der Voruntersuchung des Materials. Und letztlich versteckt sich hinter jeder Kategorisierung und Strukturierung ohnehin zumindest ein spezifisches Erkenntnisinteresse, wenn nicht gar überhaupt eine diskursive „Weltordnung“ in besonderer Form, so dass gerade bei derlei sowohl de- wie rekonstruierenden Analysen keine Einwandsfreiheit zu haben ist.

Was sich in den Schwierigkeiten der Strukturierung, Kategorisierung und Auswertung maßgeblich zeigt, ist eine grundlegende Herausforderung, die Armborsts Arbeit umso wichtiger werden lässt: die Komplexität, die Vielgestalt und Mehrdimensionalität von Ideologie in ihrer Propagierung, denen die Wissenschaft allein schon in der systematischen Beschreibung nur schwer – oder lediglich ausschnitthaft – Herr wird. Ebenso wie ein terroristischer Akt Unterschiedliches „bedeuten“ kann, stellt sich die Ideologie-Praxis und -Ordnung insbesondere von terroristischen Organisationen und Gruppierungen ein Gewebe an divergenten Reflexionsebenen und Sprechakten dar, die sich dynamisch aufeinander beziehen. Glaubens- und Handlungsdoktrinen sind verwoben mit Verheißungen und strategischen Kalkülen, mit „Analysen“ von realweltlichen Gegebenheiten (oder den Deutungsvorgaben des Feindes – s.u.), der Werbung um Aufmerksamkeit und Unterstützung, der Anleitungen zur Tat oder Diffamierung konkurrierender Denkweisen und ihrer Vertreter sowie, nicht zuletzt, der narrativen Selbstpositionierungen im diskursiven Geflecht. Dies alles gerichtet an (und optimiert hin auf) unterschiedlichste Publika.

Amborsts Untersuchung ist denn auch deshalb so wichtig, weil sie in dieses Dickicht (wie auch immer) fundiert eine Schneise schlägt und eine Fülle wichtiger Einblicke und Erkenntnisse liefert, die den Blick schärfen und etwa konternarrative Maßnahmen sinnvoll(er) werden lassen können – dabei auch mit populären allzu einfachen Deutungsmustern aufräumt.

So kann der Autor klar die Unterscheidung zwischen dem „nahen“ und „fernen Feind“, den „Apostaten“-Regierungen des Nahen und Mittleren Ostens und den USA herausarbeiten, der Denkart und religiösen Begründung hinter dieser Trennung – sowie der Rationalität oder doch zumindest Eigenlogik, die die simple Vorstellung von Fanatismus oder Missinterpretation und Instrumentalisierung religiöser Gebote und Texte aufseiten der Extremisten konterkariert. Auch die Erkenntnis, dass für AQ selbst militante strategisch und taktische Misserfolge (gemessen an den „praktischen“, politischen Folgen) noch einen religiösen Eigenwert haben (oder dahingehend stets als Erfolg verbucht, ausgegeben oder „geframed“ werden können), ist ein eminenter Befund, zeigt dies nicht nur den Unterschied zu anderen, weltlich gestimmteren Organisationen und Gruppen in der Geschichte des Terrorismus, sondern es bringt zudem die spezifische Gefährlichkeit und – zumindest potenzielle, weltanschauliche – Dauerhaftigkeit auf einen Punkt.

Eine weiter verblüffende Einsicht (jedenfalls für mich): Wie sehr AQ und seine Vordenker und Richtungsgeber nicht bloß selbstfokussierte Demagogen sind, sondern durchaus den „war of ideas“ mit (gegen-)propagandistischen Maßnahmen vor allem der USA als solchen registrieren, thematisieren und dabei / dafür durchaus Analysen und Empfehlungen etwa des Think Tanks RAND Corporation selbst wieder rhetorisch-argumentativ aufgreifend in ihre Statements einbauen, reflektieren und, etwa als Belege für dessen Propaganda, gegen den Gegner richten.   

In diesem Sinne bietet Andreas Armborst mit Jihadi Violence: A study of al-Qaeda’s media keine in sich völlig geschlossene, dafür aber in mehrerer Hinsicht empfehlenswerte und erkenntnisreiche Lektüre. 

Bernd Zywietz


[1] vgl. Matthes, Jörg (2009): What's in a Frame? A Content Analysis of Media Framing Studies in the World's Leading Communication Journals, 1990-2005. In: Journalism & Mass Communication Quarterly, 86. Jg., Nr. 2, 349-367, hier: 355 f. Direkt mit der rechtsradikalen und radikalislamistischen Web-Videos befasst die 2013 erschienene Studie der BKA Forschungsstelle Terrorismus und Extremismus von Diana Rieger, Lena Frischlich und Gary Bente: Propaganda 2.0 – Psychological Effects of Right-Wing and Islamic Extremist Internet Videos (Download als PDF HIER).

[2] etwas: Snow, David A. et al. (1986): Frame Alignment Processes, Micromobilization and Movement Participation. In: American Sociological Review, 51. Jg., Nr. 4, S. 464-481.

[3] ein weiterer eminenter, einsichtsvoller Text, auf den sich Armborst stützt, gar weiterentwickelt, ist in dem Kontext (auch als Leseempfehlung unbedingt empfohlen): Wiktorowicz, Quintan (2004): Framing Jihad: Intramovement Framing Contests and al-Qaeda’s Struggle for Sacred Authority. In: International Review of Social History, 49 Jg.,  Supplement S12, S. 159-177.