Zwei hochkarätige Tage im Zeichen der Terrorismusforschung
und -bekämpfung bot Berlin Anfang Februar. Die 9. Berliner Sicherheitsgespräche, die am 4. Februar 2015 vom Bund
Deutscher Kriminalbeamten (BdK) und Exhibition & Marketing Wehrstedt GmbH veranstaltet
wurden, standen unter dem Titel „Krieg
und Terror im Namen Allahs – Auch in Deutschland?“ und noch unter dem
Eindruck der Anschläge von Paris knapp einen Monat zuvor. In der vollbesetzen
Landesvertretung Rheinland-Pfalz hielt neben der Islamwissenschaftlerin Prof. Dr. Christine Schirrmacher, die
besonders mit geschichtlichen Hintergründen das Thema erhellte, und dem
Vorsitzenden des Zentralrats der Muslime in Deutschland Aiman Mazyek Dr. Thomas de
Maizière ein Impulsreferat, das für das größte Medieninteresse sorgte. Der
Bundesinnenminister dankte den KriminalbeamtInnen und hob die Bedeutung ihrer
Arbeit hervor, verwies in Sachen Terrorismus aber auch darauf, dass es „keine
totale Sicherheit“ gäbe. Dies sei allerdings einzuordnen, etwa angesichts von
Gewaltverbrechen, die trotz aller Sicherheitsmaßnahmen in der U-Bahn geschähen,
ohne dass man auf die Nutzung für den Weg zur Arbeit verzichte. „Es gibt kein
Leben ohne Kriminalität“(srisiko). Zweierlei sei aber Angesichts der
Terrorbedrohung zu tun: Sorgfältiges Arbeiten der Sicherheitsbehörden und nicht
in Panik verfallen, also den freiheitlichen Lebensstil aufzugeben. Was in
Europa auch geschehe und geschehen sei angesichts Anschläge der vergangenen Zeit.
RAF-Terrorismus kam von innen, so de Maizière, war
hausgemacht. Was den Jihadismus betreffe, seien es vor wenigen Jahren noch
Gruppen von „außen“ gewesen, die als Gefährder einzustufen waren. Neu sei nun seit
einigen Jahren oder Monaten, dass beides vorläge, eine radikalislamistische Bedrohung
von innen und von außen. Wichtig sei Präventionsarbeit hinsichtlich des
frühzeitigen Erkennens, ob und wann ein junger Mensch Gefahr laufe, in den
Extremismus abzurutschen. De Maizière verwies zugleich auf die Relevanz des
Drucks der staatlichen Exekutive, um etwa Anschläge in der Vorbereitungsphase
zu verhindern. „Gesetzgeberisch und faktisch“ sei dafür die internationale
Zusammenarbeit besonders hinsichtlich des Austauschs zwischen Polizeibehörden
und Geheimdiensten von Informationen aus menschlichen wie elektronischen
Quellen zentral. Auf legislativer Ebene müsse an den Außengrenzen des Schengen-Raumes
jeder Beamte bei der Passkontrolle wissen, „wen er da vor sich hat“. Außerdem
sprach sich der Bundesinnenminister für die Weitergabe von Fluggastdaten aus.
Fachlich dringend geboten sei schließlich die Vorratsdatenspeicherung bzw. die
verordnete Mindestspeicherfrist von Verbindungsdaten. Er kenne kaum einen
Sicherheitsexperten, der das anders sehe, so de Maizière, der damit die
nachdrückliche Forderung von BdK-Bundesvorsitzenden André Schulz aufgriff.
Allerdings: „Nun ist es nicht so, dass, weil alle Sicherheitsexperten etwas
fordern, man das auch machen muss“. Es sei abzuwägen, für Mehrheiten zu sorgen.
Ein Pro-Argument sei aber schlicht, dass es für Geldbewegungen etwa im Kampf
gegen Steuerbetrug oder Geldwäsche längst eine unstreitige
Vorratsdatenspeicherung gebe – und dies ohne Richtervorbehalt und bei weniger
gewichtigen Straftaten als denen des Terrorismus. Überdies erinnerte er an die allgemeine
Freigiebigkeit von Daten, wenn es um Web-Services wie Online-Shopping gehe.
Darauf wollten zwar weder der Bundesinnenminister noch der BKA-Präsident
Zugriff haben. Aber weshalb diese Großzügigkeit im Zum-Verfügung-Stellen
persönlicher Daten für Privatfirmen gelte, jedoch eine große Skepsis herrsche, wenn
„wir den Provider sagen, ihr sollt ja nur die Verbindungsdaten speichern“, habe
er „intellektuell und psychologisch“ nicht verstanden, so de Maizière, der
dafür spontanen Applaus erntete. Sicher habe er verstanden, dass es ein großes
Symbolthema geworden sei; um zu einem vernünftigen Ergebnis zu kommen – das
ginge nicht mit „großem Geschrei“ – leiste er momentan Überzeugungsarbeit.
Der zweite Hauptblock der Sicherheitsgespräche nach den
Einzelvorträgen bestand aus einer Podiumsdiskussion, moderiert von dem Werner Sonne, ARD-TV-Korrespondent im
Ruhestand. Auf der einen Seite versammelte diese Harald Range, Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof, den Präsidenten
des Bundesamtes für Verfassungsschutz Dr.
Hans-Georg Maaßen, Holger Münch, seit 1. Dezember 2014
Präsident des Bundeskriminalamtes, sowie MdB Stephan Maier, Innenpolitischer
Sprecher der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag. Auf der anderen Seite saßen
Islamwissenschaftlerin Schirrmacher,
Mayzek vom Zentralrat der Muslime in
Deutschland und Dr. Patrick Schmidtke,
als Referatsleiter im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zuständig für die
Beratungsstelle Radikalisierung.
Thema war u.a. die Be- oder gar Überlastung von Behörden angesichts
der gestiegenen Zahl von Radikalislamisten und vor allem der zurückkehrenden Syrienkämpfer.
Laut Range gäbe es aktuell 66 laufenden Verfahren mit mehr als hundert
Beschuldigten – gegenüber nur vier Verfahren mit acht Beschuldigten noch vor
einem Jahr. Angesichts eines solchen Ermittlungsanstieges stelle sich schon die
Ressourcenfrage. Allerdings habe es auch schon Personalverstärkung gegeben.
Auch BfV-Chef Maaßen gab zu, dass die Verfassungsschutzbehörden nicht auf die
Zahlen der mittlerweile zu Beobachtenden ausgelegt seien. Zudem hätte es in den
letzten Jahren immer wieder neue Schwerpunkte gegeben, die eine Umorientierung
des Personal und der Stellen nötig machte: Während jetzt Islamismus und
Syrienheimkehrer im Zentrum stünden, war dies zuvor die Spionageabwehr und der
geforderte 360-Grand-Blick im Zuge des NSA-Affäre, davor der Rechtsradikalismus
und die NSU. Dem begegne man mit der Umverteilung von Prioritäten. Der Bundestagsabgeordnete
Mayer, angesprochen auf die Unterstützungspflicht des Bundes, zeigte sich
besorgt über den Rückgang von 15.000 Polizeistellen seit dem Jahr 2000 - dies
allerdings auf Länderebene. Dort hätten sich einige in den letzten Jahren „einen
schlanken Fuß“ gemacht, und es könne nicht die Aufgabe des Bundes sein, diese
Defizite auszugleichen.
Was die aktuelle Terrorgefahrenlage für Deutschland und
andere europäische Staaten angehe, so BfV-Chef Maaßen, gäbe es nach
geheimdienstlichen Erkenntnissen seit 2013 ein gestiegenes „Grundrauschen“: es
werde in Deutschland wie in Syrien oder im Irak in der Szene viel darüber diskutiert, etwas zu
„unternehmen“. Konkrete Erkenntnisse zu Plänen lägen aber nicht vor. Auf die
Brutalität von Jihadisten-Propagandavideos im Internet angesprochen, bestätigte
er eine gewisse Attraktivität der extremen Gewaltdarstellungen. Die Clips
würden teilweise bejubelt, konsumiert, verlinkt – man nehme sie wahr. Diese
abgefilmte Brutalität sei allerdings nicht „sinnfrei“, sondern werde als
militärisches Mittel verwendet, um Furcht beim Gegner zu erzeugen. Maaßen erinnerte
an die Einnahme von Mosul trotz militärischer Unterlegenheit des „Islamischen
Staates“, was eine bestimmte Tradition in der Geschichte der islamischen
Eroberungen habe. Generalbundesanwalt Range bestätigte: Brutalität sei
attraktiv; Rückkehrer aus dem Krieg würden nicht zuletzt in diesem Zusammenhang
als Helden gefeiert.
Wie aber kann gegen – künftige – Gotteskrieger vorgegangen
oder in solchen Fällen geholfen werden? Schmidtke verwies hinsichtlich seiner
Beratungsstelle darauf, dass diese keine Aussteigerhilfe sei, sondern ein
Angebot für Angehörige oder das soziale Umfeld (vermeintlich) Radikalisierter.
Enorm viel wäre es schon wert, Eltern zu beruhigen und aufzuklären, denn nicht
jede religiöse Konversion sei gleich eine Radikalisierung. Sei die betroffene
Person schon in den Extremismus abgedriftet, böte eine von vier
zivilgesellschaftlichen Partnerstellen systemorientierte Familienbetreuung. Kontakt
zu islamischen Organisationen bestünde bereits, auch gäbe es Anfragen aus
einzelnen Moscheen. Die Zusammenarbeit sei aber noch auszubauen. Gerade was das
Engagement von muslimischer Seite anbelangt, verwies Islamwissenschaftlerin Schirrmacher
auf die Relevanz von Jugendarbeit nicht zuletzt in religiösen Einrichtungen,
vor allem jedoch auf die große Bedeutung wie leider den noch bestehenden
dortigen Mangel an Identitätsvorbildern, die mit beiden Beinen im Rechtsstaat den
Brückenschlag zwischen Migrationshintergrund und Angekommen-Sein in der
deutschen Gesellschaft positiv verkörperten.
Für stärker disziplinübergreifende und perspektiverweiternde
Gespräche stand allerdings in besonderem Maße die sich am Folgetag
anschließende gemeinsame Fachtagung des BdK und seiner Kripo-Akademie und des Netzwerk Terrorismusforschung e.V.
(NTF) in Kooperation mit der Konrad
Adenauer Stiftung e.V. (KAS). In der KAS-Akademie in der Tiergartenstraße
fanden sich an 5. Februar über
dreißig Besucher – neben Wissenschaftlern und anderen Fachinteressierten vor
allem Vertreter von Polizei- und Sicherheitsbehörden – ein, um sich über die
Berufsgrenzen hinweg auszutauschen und neue Ideen und Input zu erhalten. Nach
der einführenden Begrüßung durch Christian
Schleicher, stellv. KAS-Akademieleiter, BdK-Chef André Schulz und dem durch
die Tagung leitendenden NTF-Vorstandsvorsitzenden Dr. Stephan G. Humer ging es in sieben Vorträgen mitsamt sich
anschließenden Diskussionsrunden um „Interdisziplinäre
Herausforderungen des Terrorismus“. So vollgepackt das Tagesprogramm war, ließen
doch vor allem die Vielfältigkeit und der Abwechslungsreichtum der Themen und
ihrer Reihenfolge keine Müdigkeit aufkommen.
Einer von Deutschlands prominentesten Islamismusexperten,
Dr. Guido Steinberg von der Stiftung Wissenschaft und Politik des Deutschen
Institut für Internationale Sicherheit und Politik, eröffnete mit dem Vortrag „Al-Qaidas deutsche Kämpfer: Die
Globalisierung des islamistischen Terrorismus“. Die Zahl der ins Konflikt-
und Kriegsgebiete ausreisenden Islamisten sei spektakulär angestiegen in
letzten drei Jahren. Weshalb Deutschland dahingehend so spät, dafür mit derartigen
Steigerungsraten auftrete, versuchte Steinbach zu (er-)klären und verwies auf u.a.
auf die Globalisierung bzw. Internationalisierung als Schlüsselpunkt.
Was damit genau gemeint sei, zeige sich an den „beiden“ „Hamburger
Zellen“. Die erste Zelle der Attentäter des 11. September 2001 um Mohammed
Atta, Marwan Al-Shehhi und Ziad Jarrah, sei primär arabisch und von ihrem
Umfeld her nordafrikanisch geprägt, was zu dieser Zeit der al-Qaida-Struktur entsprochen
habe. Die (begrifflich so nicht etablierte) zweite „Hamburger Zelle“, eine
Gruppe junger Leute, die 2009 nach Pakistan v.a. zur dort agierenden
Islamischen Bewegung Usbekistan ausreisten, habe hingegen keinerlei gemeinsames
ethno-nationales Profil mehr aufgewiesen. Internationalisierung bedeute also
nicht zuletzt eine islamistische Szene, die immer mehr Menschen
unterschiedlicher Herkunft anspräche und zusammenführe. Ursächlich dafür seien
militärische Interventionen in der islamischen Welt, dahingehend auch die
mobilisierende Eskalation des Aufstands in Afghanistan 2006 und, in geringerem
Maße, Äthiopiens Eingreifen in Somalia im selben Jahr.
Außerdem führte Steinberg die Verbreitung einer Ideologie
an, die mittlerweile unter dem Begriff Salafismus bekannt sei. In deren
Spektrum seien Jihadisten sozialisiert. Die aktuelle Attraktivität Syriens als
Ausreiseziel liege wiederum an der verhältnismäßig einfachen und günstigen Erreichbarkeit
und den Möglichkeiten, dort Zugang zu den gesuchten Gruppierungen zu finden. Einen
wichtigen „Pull-Faktor“ stelle vor allem der „Islamische Staat“ dar, der die
für Salafisten ungeheuer attraktive Verheißung biete, in einem Staat nach dem
klassischen Vorbild des Prophetentums zu leben. Da aber der IS aktuell darauf
ausgerichtet sei, die eigene Position in Syrien und Irak zu halten und,
Richtung Jordanien und Libyien, auszubauen, ging davon weniger terroristische
Gefahr aus als von al-Qaida. Das zeige auch die Welle deutscher IS-Selbstmordattentate
seit Juli 2014. Hätte der IS tatsächlich ein strategisches Interesse daran,
Deutschland anzugreifen, so relativierte Steinberg die Gefahr der
Syrien-Rückkehrer, hätte man diese hierzulande eingesetzt. Allerdings könnte
auch der terroristische Konkurrenzdruck dazu führen, dass man künftig Anschläge
taktisch gezielt in Europa von IS-Seite plane.
Im zweiten Vortrag stellte Dr. Uwe Kemmesies als deren Leiter die Arbeit der Forschungsstelle Terrorismus/Extremismus (FTE), einer Abteilung des Kriminalistischen Instituts des
Wiesbadener Bundeskriminalamts, vor. „Terrorismusforschung
am Bundeskriminalamt“ bedeute, die phänomenologische Vielfalt von
Terrorismus zu reflektieren. Weshalb die Forschung am BKA nötig sei, erklärte
Kemmesies anhand eines „analytischen Paradoxes“: Während Sicherheitsbehörden
exklusiven Zugang zu höchst relevanten Daten hätten, nur leider nicht das
wissenschaftliche Know-how für deren Auswertung über das Kerngeschäft hinaus,
stünden im akademischen Bereich die Expertise zur Verfügung, der wiederum das
empirische Material fehle. Etwa für die Entwicklung von Erkenntnissen und
Maßnahmen zur Prävention sei das Ziel also ein Brückenschlag, die Synchronisierung
und der Wissensaustausch zwischen polizeiexterner und -interner Befassung mit
Terrorismus und Extremismus.
Terrorismus definierte Kemmesies dabei als „Ausdruck mangelhaft
geregelter gesellschaftlicher Konflikte“ und zwar dergestalt, dass Individuen
davon angesprochen und motiviert würden. Das theoretische Modell, das dies
abbilde und folglich der Arbeit der FTE zugrundeliege, beziehe drei
Bezugsgrößen ein: die Personen / Akteure, die Ideologie (samt ideengeschichtlichem
Hintergrund) sowie das kulturelle wie konkret gesellschaftliche Umfeld, aus dem
Terrorismus erwächst. Alle drei Aspekte seien wichtig in den Blick zu nehmen,
allein aber nicht hinreichend: Schließlich gebe es keine prädisponierende Terrorismus-Persönlichkeitsstruktur;
Ideologie sei wirkmächtig, doch offen bleibe, warum nicht mehr Personen davon
angesprochen und radikalisiert würden. Und auch die Umfeldgröße sei eminent,
gleichwohl gebe es etwa in rechtsaffinen Strukturen auch linke Kontra-Milieus. Folglich
müsse das Phänomen aus unterschiedlichen Perspektiven multidisziplinär
betrachtet werden. Das bedeute auch, sich auf die Sichtweise der Akteure selbst
einzulassen, selbst wenn diese ent- bzw. verrückt erscheinen. Doch sie hätten
nun mal „Wirklichkeitskonstruktionen im Kopf“, die sie handeln ließen. Als
qualitativ orientierter Sozialwissenschaftler verwies Kemmesies auf das
Thomas-Theorem: Wenn etwas als real definiert werde, würde es auch real in den
Konsequenzen.
So plädierte Kemmesies für Methodentriangulation und den
Einsatz qualitativer Methoden bei allem Umgang mit quantitativen empirischen
Daten, zumal Terrorismus ein Dunkelfeld sei. In puncto Wissenschaftsethik
verwies er auf die Werturteilsfreiheit: „das beschreiben, was wir sehen, nicht
das, was wir sehen wollen“, analog zur Beweissuche für die Schuld von
Verdächtigen im polizeilichen Alltag, in der es gelte, auch nach
Tatentlastendem zu suchen. Kemmesies betonte, dass die BKA-Forschungsstelle
keine Legitimationsforschung betreibe, also nicht dazu da sei, politisches
Wollen zu legitimieren. Das heiße auch, dass – wenn auch unter Berücksichtigung
etwa noch laufender Verfahren und deren Anforderungen – alle
Forschungserkenntnisse veröffentlicht würden. Als Beispiel dafür nannte er die Untersuchung
„Propaganda 2.0 Psychological Effects of Right-Wing andIslamic Extremist Internet Videos“, die unter Leitung von Gary
Bente, Professor für Medien- und Kommunikationspsychologie in
Köln, entstanden sei. Anregungen aus dem Publikum, dass derartige Ergebnisse
und Kenntnisse der FTE noch stärker in alltagstauglicher (Übersichts-)Form,
etwa über den BKA-Newsletter, in Kreisen der Polizei bekannt gemacht werden
müssten, griff Kemmesies gerne auf.
Als Forschungslücken bzw. Desiderate nannte
er Vergleiche zwischen verschiedenen „Extremismen“ sowie Untersuchungen zu
Verlaufsformen, also über die Zeit hinweg: Was etwa unterscheide die aktuelle
Generation der „foreign fighters“ von den Frühausreisenden ins
afghanisch-pakistanische Grenzgebiet? Zudem müsse generell verstärkt statt nur
über Risiko- auch über protektive Faktoren nachgedacht werden: was schütze
Personen vor dem Abgleiten in „deviante Karrieren“? Außerdem gelte es, die
Wechselwirkungen zwischen den extremistischen Strömungen in den Blick zu
nehmen, zu evaluieren, was im präventiven wie repressiven Bereich getan werde
und „mögliche Effekte antagonistischer Kooperation“ zu untersuchen: Inwiefern
etwa profitieren Sicherheitskreise und die Medien von Terrorismus – aber auch
die Wissenschaft, die auf den „Bedrohungswagen“ aufspringe, nolens volens etwa um
Drittmittel einzuwerben?
Hazim Fouad, Islamologe
und wissenschaftlicher Mitarbeiter des Bremer Landesamtes für Verfassungsschutz („dem kleinsten Geheimdienst der Welt“)
widmete sich in seinem Vortrag
„Islamismus – Dimensionen der Bedrohung aus der Sicht des
Verfassungsschutzes“ nicht nur dem Terrorismus, sondern erweiterte den Blick
auch auf die Grenzzonen des Jihadismus. Wichtig bei Grundsatzvorträgen sei die
Unterscheidung: Salafisten machten nur einen kleinen Teil der muslimischen
Gemeinschaft aus, gewaltbereite Jihadisten nur einen Bruchteil der Salafisten.
Man könne aber Islamismus nicht wirklich erklären, greife man nicht auch die
Islamfeindschaft mit auf. Das Aufzeigen struktureller Ähnlichkeiten machte da
einiges klarer.
Fouad gab Einblicke in das Spektrum der
nicht-gewaltbereiten, legalistischen Islamisten-Gruppierungen (darunter die
Islamische Gemeinschaft Deutschland sowie die türkischstämmige Millî Görüş, in
Deutschland repräsentiert durch die IGMG - Islamische Gesellschaft Millî Görüş)
und ging auf die Herausforderungen ein, verschiedene Strömungen auch innerhalb
derartiger Gruppierungen im Blick zu behalten sowie Veränderungen
nachzuvollziehen. Schwierig sei es, Salafismus praxistauglich und rechtssicher
zu definieren und zu beschreiben, um ihn darüber zum Gegenstand der sicherheitsbehördlichen
Beobachtung zu machen. Diskutiert wurde in diesem Zusammenhang das Problem der Geheimdienstarbeit,
mit dieser gemäßigte Teile in islamischen Gruppen, die ein Gegengewicht zu Fundamentalisten
und Radikalen bilden können, potenziell zu verschrecken und aus der
Organisationsarbeit zu vertreiben, die es eigentlich zu stärken gelte.
Journalist, Buchautor und Afrika-Experte Marc Engelhardt referierte in seinem
Vortrag mit dem Titel „Symbiose zwischen
Terrorismus und Organisierter Kriminalität: Heiliger Krieg – heiliger Profit“
zur Situation in Nigeria unter der Bedrohung von Boko Haram. Während
hierzulande noch die ideologische Motivation hinter den Untaten der
Islamisten-Miliz dominant fokussiert werden, ging Engelhardt differenzierter auf
die realen Verhältnisse in dem Krisenstaat ein, in dem Boko Haram gute Kontakte
zu korrupten, kleptokratischen und nepotistischen Politikern unterhielten oder
gar ein in gewissem Maße ordnendes Gegengewicht zu diesen darstelle. Für junge
Männer böte die Gruppe mit dem besoldeten Waffendienst oft den einzigen Ausweg aus desolaten wirtschaftlichen
und mithin sozialen Verhältnissen, in denen z.B. keine Heirat ohne Mitgift
möglich sei. Auch die international Aufsehen erregende Verschleppung von über
200 Schülerinnen im Frühjahr 2014 sei zwar vom Ausmaß, nicht aber von der Art
her besonders, insofern solche und andere Formen von Entführungen schlicht ein
einkömmliches Geschäftsmodell seien, welches nun politisiert wird. Diverse
Formen der politischen Einwirkung vor allem von westlicher Seite wirkten eher
negativ bis kontraproduktiv.
Neben Eric van Um
(Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung), der angesichts und gegenüber
klassischer Modelle des Terrorismus und des Guerilla-Kampfes in seinen Vortrag
„Terrorismusverständnis im Wandel: Der
Islamistische Staat“ den IS begrifflich wie konzeptionell einzuordnen
suchte und dabei auf historische Vorläufer wie v.a. die tamilischen Liberation
Tigers of Tamil Eelam (LTTE) verwies, sowie Alexander Theus von Europols Counter-Terrorism Group, der den EU Terrorism Situation and Trend Report sowie die herausforderungsvolle
Arbeit daran vorstellte, referierte Natalie
Paton (Laboratoire d'Études et de Recherches Appliquées en Sciences
Sociales der Universität Toulouse) über „School Shooting“, also Amokläufe an
Schulen, und deren „Mediatization of
violence“ (Vortragsuntertitel: „From
martyr models to individuation for the marginalized“).
Dabei präsentierte sie Forschungserkenntnisse zur Web-2.0-Nutzung der Täter sowie der Social-Media-Reaktionen auf Tat und Täter (bis hin zu deren Glorifizierung). Zentral für Partons Arbeit ist der entwicklungspsychologische und soziologische Begriff der Individuation. Im Ergebnis können u.a. „School Shootings“ teilweise erklärt werden „by the paradoxes and contradictions of contemporary injunctions to individuation”, wobei sich Gewalt als Prozess der Subjektkonsitution und als Form des Empowerments begreifen ließe. Digitale Subkulturen repräsentierten in diesem Zusammenhang Unterstützung des Selbstwerdungsprozesses. (Siehe zu dem Thema auch Patons online frei verfügbares Paper „Media Participation of School Shooters and their Fans: NavigatingBetween Self-Distinction and Imitation to achieve Individuation“.)
N. Paton (Foto: Rolf Rainer Jaeger) |
Dabei präsentierte sie Forschungserkenntnisse zur Web-2.0-Nutzung der Täter sowie der Social-Media-Reaktionen auf Tat und Täter (bis hin zu deren Glorifizierung). Zentral für Partons Arbeit ist der entwicklungspsychologische und soziologische Begriff der Individuation. Im Ergebnis können u.a. „School Shootings“ teilweise erklärt werden „by the paradoxes and contradictions of contemporary injunctions to individuation”, wobei sich Gewalt als Prozess der Subjektkonsitution und als Form des Empowerments begreifen ließe. Digitale Subkulturen repräsentierten in diesem Zusammenhang Unterstützung des Selbstwerdungsprozesses. (Siehe zu dem Thema auch Patons online frei verfügbares Paper „Media Participation of School Shooters and their Fans: NavigatingBetween Self-Distinction and Imitation to achieve Individuation“.)
Da Paton zahlreiche Parallelen zwischen Schulattentätern und
Terroristen präsentierte – vorrangig in medialer Hinsicht, aber auch bezüglich
des inhaltlichen „Nachlasses“ der Attentäter –, war dieser Vortrag eine
gelungene Horizonterweiterung und sorgte so wie die anderen für einen angeregte
Austausch. Der NTF-Vorsitzende Stephan G. Humer dankte zum Abschluss der
Referentin und den Referenten für ihre Präsentationen und allen Anwesenden für
die „gleichermaßen intensiven wie vielversprechenden Diskussionen“, die letztlich
ebenso wie die Verabredung zur verstärkten Zusammenarbeit Ziel dieser
Veranstaltung gewesen seien. Es sei in Zeiten zunehmend komplexerer Phänomene
wichtiger denn je, miteinander ins Gespräch zu kommen und gemeinsam intelligente Lösungen zu entwickeln,
so Humer, der dabei den Berliner Historiker Heinrich August Winkler zitierte
und so sehr deutlich für kollektive Proaktivität in Sachen Terrorismusforschung
und -bekämpfung warb: „Es ist ein geistiges Armutszeugnis, wenn die westlichen
Demokratien immer nur aufgrund äußerer Drohungen anfangen, über ihre Grundlagen
nachzudenken.“
Dieser zweite Tag der Berliner Sicherheitsgespräche erweise sich nun, so Humer,
als erfolgreiche Erweiterung der seit Jahren fest in der deutschen
Sicherheitslandschaft etablierten BdK-Gesprächsrunde und sei „hoffentlich der
Beginn einer langen Serie von gemeinsamen Veranstaltungen“.
[1] Die zwischen März und November 2014 durchgeführte
Untersuchung des BfV, des Hessischen Informations- und Kompetenzzentrums gegen
Extremismus und der Forschungsstelle Terrorismus/Extremismus im BKA gibt in
ihrer Auswertung Auskunft zu Radikalisierungshintergründen und -verläufen von
insgesamt 378 Personen, die bis Ende Juni 2014 aus islamistischer Motivation
aus Deutschland in Richtung Syrien ausgereist sind.