Arthur Rutishauser, Chefredakteur der Tages-Anzeiger, verkündete Sache am Freitag, dem 29. Juli 2016: Ab sofort werden keine Bilder mehr von Attentätern und Amokläufern in seinem Blatt präsentiert, weder in den Print-Ausgaben, noch online. Die überregionale Tageszeitung aus Zürich habe, so Rutishauser, intern ihre ohnehin bereits zurückhaltende Praxis angesichts der Anschläge und Attacken von Nizza, Würzburg, München und Ansbach auf den Prüfstand gestellt und entschieden, dass diese nicht mehr genüge.
„Die Medien tragen [...] eine spezielle Verantwortung. Wir haben einen Informationsauftrag und müssen auch über schwere Gewalttaten berichten, die Hintergründe ausleuchten und Zusammenhänge aufzeigen. Gleichzeitig müssen wir uns mit den möglichen Folgen der Berichterstattung auseinandersetzen. Wir müssen aufpassen, den Attentätern und deren Propaganda keine Bühne zu geben und damit womöglich Nachahmer zu animieren.
Untersuchungen zeigen, dass Nachahmungseffekte bei Massentötungen wie Selbstmordanschlägen, Amokläufen und Terroranschlägen tatsächlich existieren. Psychologen bestätigen die Befunde“ so Rutishauser in der Erklärung.
Die französische Zeitung Le Monde, auf die er verwies, hatte einige Tage zuvor schon in einem Leitartikel ihres Chefredakteurs Jérôme Fenoglio mit dem Titel „Résister à la stratégie de la haine“ („Der Strategie des Hasses widerstehen“) gleiches für sich beschlossen. Zudem wird die als linksliberal geltende überregionale Tageszeitung aus Paris darauf verzichten, Bilder aus Propagandamaterialien des „Islamischen Staats“ zu präsentieren. Keine Selbstverständlichkeit.
In einer Meldung über diesen Schritt schrieb am 27. Juli die Süddeutsche Zeitung (auf SZ.de):
„In Frankreich und in anderen Ländern wird derzeit intensiv darüber debattiert, wie sich Medien angesichts der häufigen Terroranschläge verhalten sollen. [...] Die Kernfrage ist, ob Medien mit intensiver Berichterstattung zu derartigen Taten beitragen. In Bezug auf den Amoklauf von München wird einigen Medien außerdem vorgeworfen, zur Verbreitung von Gerüchten beigetragen zu haben.“
Die Zeit setzte ihrer aktuellen Ausgabe (Nr. 32 / 2016 vom 28. Juli) dahingehend ebenfalls ein Zeichen. Die Hamburger Wochenzeitung verzichtete zwar nicht auf Fotos von Tätern, Tatorten und Opfern, bildete diese aber demonstrativ in extremer Unschärfe ab (s. Abbildung).
Ausschnitt aus Die Zeit (32/2016, S. 13) |
Die Begründung dazu lautete:
„Wir haben uns dazu entschlossen, die Bilder der Täter, der Waffen und der Tatorte unkenntlich zu machen. Wir wollen nicht dazu beitragen, dass Mörder zu Helden stilisiert werden – und dass ihr Kalkül aufgeht: durch Grausamkeit berühmt zu werden. Dass Medien blutige Bilder verbreiten, gehört zum Plan der Täter. Ihm wollen wir nicht folgen.“ (S. 13)
Inwiefern allerdings diese Verfremdung selbst wiederum eine Stilisierung und zumindest ästhetisch (und ästhetisierend) mit der Bedeutung der Täter und ihrer Fotografien spielt, ist eine andere Frage und Diskussion wert. Eine interessante Idee ist es allemal.
Im Zeit-Beitrag „Warum es nicht aufhört?“ ist jedenfalls vom „Werther-Effekt“ die Rede. Diesen Aspekt der Medienwirkung, speziell der Imitation, führt ja auch Rutishauser ins Feld (s.o.). Die Bezeichnung „Werther-Effekt“ geht auf Johann Wolfgang Goethes berühmten und seinerzeit sehr populären Briefroman „Die Leiden des jungen Werthers“ (erstveröffentlicht 1774 noch mit Genitiv-"S") zurück, in dem sich der Titelheld aus unglücklicher Liebe selbst tötet. Vor allem aber verweist der Terminus auf die Nachahmungstaten in Folge der Romanlektüre. Wie Micheal Kunczik und Astrid Zipfel in ihrem Buch „Gewalt und Medien“ [1] schreiben, folgte tatsächlich ein Verbot des Buches in einigen Ländern (vgl. Kunczik/Zipfel 2005, S. 30). Dies ganz im Sinne u.a. des Göttinger Medizinprofessors Friedrich Benjamin Osiander (1759-1822), denn im „Werther“ sah Osiander Selbstmord „als eine Heldenthat oder eine Handlung eines großen Genies dargestellt“ (zit. n. ebd., S. 31). Im Sinne dieser Suggestionsthese wurden auch in verschiedenen Studien in den letzten vierzig Jahren Belege für solche Imitationseffekte nach Berichten über sowie (u.a. fiktionalen) Darstellungen von Selbstmorden gefunden (vgl. ebd., S. 94 ff.). Als Faktoren für Nachahmungswirkungen gelten – wenn auch von Kunczik und Zipfel nicht unkritisch betrachtet – u.a.:
- der Publizitätsgrad (die Berichterstattungsintensität)
- die Eigenschaften der Rezipienten (Jüngere sind mehr gefährdet als Ältere) sowie
- die Ähnlichkeit zwischen Vorbild und Nachahmer
- die Art des dargestellten Verhaltens (reales Handeln wird wohl eher nachgeahmt als fiktives)
- die Darstellung der Konsequenzen (etwa als positiv u. heroisierend)
(vgl. ebd., S. 101)
Was den letzten Punkt, die Präsentation der Folgen, betrifft kann allerdings von einem Unterschied zwischen einem Selbstmord, der sich nur gegen das eigene Leben wendet, und der Selbsttötung am Ende eines Amoklaufs oder einem gezielt bzw. potenziell suizidalen Terrorakt angenommen werden. Bei den beiden letztgenannten Gewaltaktionen spielen weniger die Werthaltungen und Reaktionen in der Öffentlichkeit und in den Massenmedien eine Rolle, weil es alternative konträre Sichtweisen und entsprechende Abrgenzungsgemeinschaften gibt, mit denen sich die Täter identifizieren: die teils fast kultische Verehrung von Amoktätern im Internet [2] oder die Welt- oder zumindest Konfliktwahrnehmung von Terroristen samt demonstrativer Märtyer-Verehrung, die einen gewissen Ruhm auch „lone actors“ verheißt. Insofern es um Rache, Schrecken und Verstörung geht, können negative Reaktionen in Presse und Rundfunk also eher ganz im Sinne potenzieller anti- (oder alternativ-)sozialer Nachahmer sein.
Was denn auch Terrorismus selbst betrifft, ist weniger der „Werther-Effekt“ als Begriff geläufig, sondern jener der „contagion“. Auch wenn die Vorstellung von massenmedialer „Ansteckung“ sich nicht auf das Feld politischer Gewalt beschränkt und für manche eher behauptet denn belegt erscheint, ist die Annahme eines solchen Effekts scheinbar „commonsensical and [...] indeed supported by anecdotal accounts as well as more systematic research“ (Nacos 2009, S. 4 [3]). Zu letzterer gehört die schon in den 1980er Jahren beginnende Forschung Gabriel Weimanns [4], Professor der Kommunikationswissenschaft an der Universität Haifa.
Brigitte L. Nacos, Politologin an der Columbia Universität, macht in ihrem Übersichtsbeitrag in Perspectives on Terrorism dahingehend eine wichtige Unterscheidung: die zwischen taktischer und inspiratorischer Ansteckung.
Ersteres zielt auf konkretes terroristisches Vorgehen ab, das v.a. bei Erfolg als Vorbild dient, beispielsweise die Botschaftsbesetzungen in den 1970er-Jahren (vgl. ebd., S. 7 – mit Bezug auf Brian Jenkins). „Inspirational contagion“, sei, so Nacos, allerdings, für die „Ziele“ der Terroristen alarmierender, denn „it is the stuff that makes terrorists tick“ und führe zur Bildung von neuen Organisationen und Zellen (ebd., S. 9). Der Schockwert der Bilder der Enthauptung Nicholas Bergs 2004 oder die Ermordung des niederländischen Filmemachers Theo van Gogh im selben Jahr finden freilich ihren inspirativen Wut- und Empörungs-Gegenpart in der gelben und orangefarbenen Kluft der IS-Hinrichtungsopfer, die der der Guantanamo-Häftlinge nachempfunden ist, wie sie eben über die Massenmedien ebenso weltweit zirkulierten.
Nacos schloss 2009 jedenfalls:
„In conclusion, when it comes to international and domestic terrorism, various kinds of media figure quite prominently in both tactical and inspirational contagion. While the Internet has moved center-stage in this respect during the last decade, the targets of terrorism have not been able to effectively counter the mass-mediated virus of this form of political violence“ (ebd., S. 11).
Für die aktuelle Welle der Einzeltäterattentate dürfte dies auch gelten.
Können Zeitungen wie Le Monde und der Tages-Anzeiger mit ihrer Verweigerung oder die Zeit mit ihrer selbstreflexiven performativen Verfremdung tatsächlich dagegenwirken?
Rutishauser:
„Wir sind uns bewusst, dass unser Einfluss hier sehr begrenzt ist. Wenn der «Tages-Anzeiger» auf Bilder und Videos von Tätern verzichtet, verschwinden diese nicht einfach. Sie werden weiterhin tausendfach im Netz zu sehen sein. Wo es uns aber möglich ist, wollen wir unsere publizistische Verantwortung wahrnehmen.“
Mehr als um die Medienwirkungsprävention geht es also um ethisches Verhalten, das weniger nach „außen“, an die Täter, als nach „innen“, an die eigene Wertegemeinschaft zwecks Selbstverständigung gerichtet ist. Es ist ein begrüßenswerter und hoffentlich nicht nur zum Nachdenken und nicht nur in Branchenkreisen anregender Zug. Einer, der nicht nur auf der visuellen Ebene verbleiben darf, sondern die Berichterstattung gernell einbeziehen sollte: Wie detailliert, eilige und auch in welchen Umfang überhaupt Terrorismus und Amok thematisiert werden. Und dies ist ein weit schwieriger Punkt, weil der das Informations- und manchmal auch Sensationsinteresse von LeserInnen und ZuschauerInnen betrifft, gegen den im Aktualitätsdruck sich Massenmedien nur schwerlich verweigern können oder möchten. Dem Zwang zur Bebilderung - vor allem dem im Fernsehen vorherrschenden des Illustrierens - etwas entgegenzusetzen, ist gleichwohl bereits ein starker symbolischer Akt.
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[1] Kunczik, Michael / Zipfel, Astrid (2006): Gewalt und Medien. Ein Studienhandbuch. 5., überarb. Aufl. Köln u.a.O.: Böhlau.
[2] siehe dazu u.a.: Paton, Nathalie (2012): Media Participation of School Shooters and their Fans: Navigating between Imitation and Distinction to Achieve Individuation. In: Glenn W. Muschert / Johanna Sumiala (Hg.): School Shootings: Mediatized Violence in a Global Age. Bingley: Emerald Publishing House, S. 81-103.
[3] Nacos, L. Brigitte (2009): Revisiting the Contagion Hypothesis: Terrorism, News Coverage, and Copycat Attacks. In: Perspectives on Terrorism, 3. Jg., Nr. 3, S. 3-13. Online unter: http://terrorismanalysts.com/pt/index.php/pot/article/view/73/150
[4] siehe z.B.: Weimann, Gabriel (1983): The Theater of Terror: The Effects of Press Coverage. In: Journal of Communication, 1. Jg., Nr. 1, S. 38-45;
Brosius, Hans-Bernd / Weimann, Gabriel (1991): The Contagiousness of Mass-Mediated Terrorism. In: European Journal of Communication, 6. Jg., Nr. 1, S. 67-75.